Theater-Tipp: Hedwig And The Angry Inch / Interview mit Alex Melcher

Alex Melcher mimt in Gelsenkirchen Hedwig - einen Menschen, der zwischen den Geschlechtern schwebt. Fotos: Sascha Kreklau
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Mit „Hedwig And The Angry Inch“ gibt das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier einem Rock-Musical Raum, das tief ins Gefühl geht. Für die vermeintlich große Liebe und eine Ausreise von Ostberlin in die USA lässt sich der junge Hansel zur Frau operieren. Aus Hansel wird Hedwig. Doch die OP läuft schief, ein „Angry Inch“ bleibt zurück. Dieser lässt Hedwig zeitlebens zwischen den Geschlechtern schweben. Sandra Heick hat mit Hauptdarsteller Alex Melcher kurz nach einer Vorstellung über seine herausfordernde Rolle gesprochen.

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Wenn Hedwig wieder zu Alex Melcher wird

Alex, du hast ja noch Hedwigs Glitzernagellack drauf!

Ja, ich hab keinen Nagellackentferner in der der Garderobe. Meistens renne ich dann noch eine halbe Woche damit rum…

Wie sehr schlaucht die Show?

Sie schlaucht sehr. Da ist ein Schalter, der sich umlegt – und dann muss man da durch, mit allem was man hat. Wenn man mit Überzeugung und mit allen Emotionen, die in einem sind, an die Herausforderung herangeht, dann geht der Körper aber auch mit.

Was besonders anstrengend ist, sind die Abstände zwischen den Shows. Die mehrwöchigen Pausen…

Was macht die so anstrengend?

Hedwig hat so viele Facetten und so viel Text, der transportiert werden muss. Sie steht ja quasi die komplette Show im Fokus. Da nach einer Pause wieder reinzufinden – das ist nicht einfach. Ich mag ja En-suite-Shows sehr gerne: Da gehst du in eine Bubble rein für eine gewisse Zeit, und drinzubleiben hilft enorm. Wenn ich jetzt zwischen den Shows zu Hause bin, bin ich Familienvater, führe ein relativ normales Leben – und dann muss ich immer wieder umschalten. Ich spüre: In den Pausen von „Hedwig And The Angry Inch“ geht eine gewisse Weiblichkeit verloren. Hedwig wieder nah zu kommen, das ist für mich dann ein ziemlicher Kraftakt.

„Ich kann komplett vergessen, wer Alex Melcher ist“

Wie sieht’s denn während der Show in deinem Kopf aus?

Das willst du nicht wissen! Ich weiß es eigentlich selbst nicht so wirklich. Wenn ich das wüsste, dann würde ich wahrscheinlich Panik kriegen und davonspringen. Im Grunde ist es so: Ich nähere mich ein paar Tage vor einer Show langsam der Show-Bubble, und wenn’s dann vor Ort in Gelsenkirchen ans Make-Up geht, gehe ich in meine Rolle rein. Sobald das Stück losgeht, kann ich komplett vergessen, wer Alex Melcher ist. Als Alex Melcher würde ich mich wahrscheinlich vieles nicht trauen, was auf der Bühne passiert. Aber natürlich hole ich auch viel aus mir selbst raus. Ich habe beim Annähern an die Rolle geschaut: Wo ist in meiner Körperlichkeit was Weibliches? Welche Facetten gibt es? Man kann ja nicht einfach mit einer Schublade arbeiten. Aber am Ende sind es einfach menschliche Gefühle, um die es geht.

Wo hast du Anknüpfungspunkte gefunden?

Vor allem in den Sehnsüchten: Einen Platz zu finden, akzeptiert zu werden, wie man ist – und auch geliebt zu werden. Und dann ist da noch der Aspekt des Fortgehens, inklusive aller Risiken. Ich hab ja einst für die Kunst die Schule abgebrochen. Und natürlich ist da das Musikmachen und Songschreiben, das ich mit Hedwig gemeinsam habe. Selbst mit Blick auf die Sanftheit, die ihre Rolle braucht, habe ich vieles in mir entdeckt. Manches muss man nur zulassen.

Kann man schon in der Ausbildung vieles zulassen oder ist es ein langer Prozess? Man geht ja auch durchaus über seine Grenzen hinaus.

Es braucht schon eine gewisse Erfahrung. Man lernt in der Ausbildung, Eitelkeiten fallen zu lassen und ins kalte Wasser zu springen. Aber darüber hinaus hängt viel davon ab, wie man zu der Kunst, die man macht, steht. Warum man sie macht – ob es um Prestige und Anerkennung von außen geht oder ob man von innen heraus das Gefühl hat, gar keine andere Wahl zu haben, als auf die Bühne zu gehen.

Ich persönlich wusste irgendwann: Ich muss und möchte das machen. Gewiss habe ich auch meine Grenzen, aber da ist Mut zum Risiko: Ich schaffe es, mich in einer Rolle wie die der Hedwig emotional wirklich nackt zu machen. Und ich traue mich, auch mal hässlich zu sein. Ansonsten würde es aus meiner Sicht nicht funktionieren.

Du bist als Hedwig emotional nackter als körperlich, auch wenn du am Ende kaum noch etwas anhast, oder?

Auf jeden Fall. Es ist seelischer Exhibitionismus.

Auf der Bühne ist Alex Melcher extrovertiert, abseits der Bühne ist er eher schüchtern.

Alex Melcher war einst mit Udo Lindenberg verschmolzen

Und wie sieht’s nach dem seelischen Exhibitionismus in deinem Kopf aus? Wenn das Glitzer-Make-Up wieder runter ist?

Dann stehe ich vor dem Spiegel und denke mir: Scheiße, ich muss trainieren gehen! Ach Gott, aber für über 50… Nein, da kommen schon die Adern raus! Wie kannst du dich so auf die Bühne stellen? Bist du nicht mehr normal? (lacht) Davon abgesehen nimmt man emotional schon einiges mit nach Hause. Es ist nicht einfach. Würde ich En-suite spielen, würde ich mich im Alltag wahrscheinlich auch anders bewegen – wie damals, als ich Woche für Woche Udo Lindenberg in „Hinterm Horizont“ gespielt habe. Es war schwer, den wieder rauszukriegen. Manchmal bin ich sogar mit Udos Stimme ans Telefon gegangen, ohne es zu merken.

Welche Szene in „Hedwig And The Angry Inch“ ist die härteste für dich?

Es ist der Dialog von Hedwig und ihrem geliebten Amerikaner Tommy, der nicht mit den Folgen von Hedwigs verkorksten Geschlechtsumwandlung umgehen kann. Mit ihrem „angry inch“. Wenn’s dann wirklich ans Eingemachte geht. Ich spreche beide Parts, muss also immer wissen, wer ich grad eigentlich bin. Und dann muss ich ganz stark aufpassen, nicht zu viel zu machen. So ehrlich wie möglich zu sein. Manchmal erwischt man sich aber doch dabei, nicht komplett im Gefühl gewesen zu sein – und dann kriegt man Panik.

Die Szene ist auch als Zuschauer schwer zu ertragen, es ist immer ganz still im Publikum und manchem stehen Tränen in den Augen.

Ich habe als Schauspieler halt am Ende doch eine gewisse Grenze: Ich darf nicht zusammenbrechen auf der Bühne. Ich muss durch die Geschichte durch, muss stets die Oberhand haben – auch wenn es manchmal nur ein paar Prozent sind.

Das Gute ist: Du kannst in der Kunst vieles ausleben. Schon als ich als Kind Songs geschrieben habe, war die Hälfte meiner Gefühle am Ende in der Musik. Wenn du die Hälfte deines Zorns in einen Song gepackt hast, geht es dir definitiv besser.

Nach der pandemiebedingten Auszeit wurde er zum Tiger

Hat dir die Bühne in Zeiten der Pandemie sehr gefehlt?

Wenn ich ehrlich bin: Nicht so sehr. Ich stehe ja seit über 25 Jahren auf der Bühne und habe schon so viele tolle Rollen gespielt… Da war es dann kein Problem, mal zwei Jahre lang nicht im Rampenlicht zu stehen. Ich habe es sehr genossen, mal mehr mit meinem Hund im Wald spazieren zu gehen. Zudem habe ich ja zu Hause ein Studio und konnte quasi im Homeoffice arbeiten. Mir wurde also nie langweilig. In keiner Minute.

Aber: mir hat der soziale Kontakt mit Gleichgesinnten gefehlt. Mit denen, die mich verstehen und die ich verstehe. Ich habe tolle Nachbarn, wirklich – aber sie leben in einer anderen Welt. Wenn ich mich zehn Minuten mit ihnen über die Pflege unserer Gemeinschaftsfläche unterhalten habe, darüber, welches Unkrautvernichtungsmittel wir nehmen, dann denke ich mir nur: Lasst den Rasen, wie er ist! Sie verstehen mich in vielen Punkten nicht, sie verstehen meinen Humor nicht, meinen Kopf nicht…

Und davon abgesehen wird man auch ein bisschen träge in den eigenen vier Wänden. Wird fauler, isst viel Kuchen, trainiert weniger… Mit Blick auf meine Kondition dachte ich irgendwann wirklich: Kann ich das noch, was ich mal konnte?

Vor „Hedwig And The Angry Inch“ kam nach der pandemiebedingten Auszeit ja erstmal „Der achtsame Tiger“, ein Kindermusical mit dir in der Hauptrolle. Ein sanfter Wiedereinstieg in die Show-Welt, oder?

Kinder sind ein tolles Publikum, aber sanft ist anders. Ich war schließlich das Gegenteil von fit, und dann steh mal eine Stunde lang in einem Fellkostüm auf der Bühne, springe, tanze und singe… Bei der Premiere bin ich am Ende wirklich an meine Grenzen gekommen. Ich dachte: Ich kipp gleich um. Es war der Wahnsinn. Aber es war auch das ideale Cardio-Training. Am Ende der Spielzeit war der Corona-Speck wieder weg.

Und dann wurdest du vom achtsamen Tiger zur nicht ganz so achtsamen Hedwig.

Genau das ist es, was ich schon immer spannend fand! Ich will in keiner Schublade stecken, ich will authentisch verschiedenste Rollen spielen, die mich fordern, ich will stets dazulernen, ich will stets Neues entdecken. Stillstand – das ist für mich ganz, ganz schlimm.

Alex Melcher: „Hedwig hat so viele Facetten“

Weitere Termine für „Hedwig And The Angry Inch“ im Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen:

7.5., 19:30

8.5., 18:00

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