Marcus von Kettcar: Songwriting, hautnah am Zeitgeschehen

Nach sechseinhalb Jahren sind Kettcar mit einem neuen Album zurück. Wir sprachen mit Frontmann Marcus Wiebusch (Mitte). Foto: Andreas Hornoff
Teilen
Teilen

Mit „Gute Laune ungerecht verteilt” legt die Indie-Rockband Kettcar nach sieben Jahren ein neues Album vor. Darauf schlagen die Hamburger sowohl textlich, als auch musikalisch ganz unterschiedliche Töne an. Im Gespräch mit uns stellt Sänger Marcus Wiebusch klar: Aktuelle Umstände spielen beim Songwriting eine gewichtige Rolle.

Inhaltsverzeichnis [verbergen]

Corona? Eher ein Inspirations-Killer für Kettcar

Am 5.4. erscheint euer sechstes Studioalbum: Kannst du etwas zum Entstehungsprozess sagen?

Die sieben Jahre zwischen dem Vorgänger „Ich vs. Wir” und nun „Gute Laune ungerecht verteilt” waren zum einen geprägt von der Pandemie, aber auch von einer nicht so einfachen Zeit in meinem persönlichen Umfeld. Wir ackern als Band, haben zwischenzeitlich auch eine EP mit fünf neuen Songs veröffentlicht. Manchmal kommen mir diese sieben Jahre tatsächlich absurd lang vor, zumal ich Musikerkolleginnen und -kollegen kenne, die die Corona-Phase als eher inspirierend wahrgenommen haben. Die sich gerade in dieser Zeit ihrer Kunst widmen konnten. Das war mir aber nicht möglich.

Dem neuen Album folgt eine ausgiebige Tour: Wie seht ihr als Band dieser spannenden Zeit entgegen?

Die Vorfreude ist nach einer so langen Zeit natürlich groß! Die Band Kettcar wurde 2001 gegründet; uns ist klar, dass die Musikbranche und auch die Fanstrukturen einem permanenten Wandel unterliegen. Machen wir uns nichts vor: Auf Spotify und Co. geben heute ganz andere Bands den Takt vor und bestimmen, was angesagt oder neu ist. Wir folgen da aber unserem eigenen Kompass und hoffen, dass wir ebenso Impulse setzen können.

Du hast die Pandemie angesprochen, hinzu kamen und kommen Krisen und Kriege. Inwiefern fließen gesellschaftliche Veränderungen in den Entstehungsprozess eines Albums mit ein?

Klar, wir beziehen die aktuellen Umstände mit ein: Beim Songwriting haben Reimer Bustorff (Bass und Gesang, Anm. d. Redaktion) und ich beschlossen, dass wir uns nicht gemütlich in unsere eigenen Textsphären zurückziehen wollen, sondern inhaltlich auf die Zeit reagieren. Nichtsdestotrotz findet sich aber auch ein Liebeslied auf „Gute Laune ungerecht verteilt”, was man ja auch ein wenig als Eskapismus verstehen darf. Als Band möchten wir heterogene Texte und Stimmungen entwerfen – die erste Single „München” wiederum ist ein knallhart-politischer Song …

Marcus Wiebusch: „Wir dürfen uns jetzt eben nicht zurücklehnen.“

… in dem es um Diskriminierung und Alltagsrassismus geht. Ein Stück, das in einer Zeit erscheint, geprägt von hohen AfD-Umfragewerten, aber auch großem Gegenprotest.

Zuerst ist festzuhalten, dass sich jeder aufrichtige Demokrat über diese Gegenproteste freuen kann. Dass in kürzester Zeit so viele Menschen auf die Straße gegangen sind. Gleichzeitig dürfen wir uns jetzt aber eben nicht zurücklehnen und sagen: „Wir haben unseren Beitrag geleistet.” Vielmehr ist doch klar, dass es da draußen Kräfte gibt, die unserem Verständnis von Demokratie auf extreme Art und Weise gegenüberstehen. Wir müssen den Menschen, die AfD wählen, die richtigen Argumente liefern. Damit wir nicht bald schon Verhältnisse vorfinden, wie sie möglicherweise ab dem kommenden November in den USA herrschen.

Marcus Wiebusch hat mit seinem Bandkollegen Reimer Bustorff die Songs fürs neue Album geschrieben. Foto: Grand Hotel van Cleef

Ihr erinnert am Ende des Videoclips zu „München” an die Opfer des NSU, auch sind damalige Tatorte zu sehen. Wie wichtig ist diese Erinnerungsarbeit?

Uns war es wichtig, klarzustellen, dass wir allesamt in rassistische Zusammenhänge geworfen sind, die wir täglich benennen können. Die NSU-Morde zwischen 2000 und 2006 waren der ultimative Gipfel dieses Rassismus. Wir haben uns bei der Konzeption des Videos durchaus mit der Frage beschäftigt, ob wir die Tatorte der NSU-Morde darin zeigen sollen. Darf man das so machen? Denn auch wenn wir uns politisch äußern, bleibt Kettcar eine Popband. Rückblickend war es die richtige Entscheidung, denn spätestens nach Bekanntwerden des AfD-Geheimtreffens in Potsdam – Song und Video waren da längst produziert – hat uns die Zeit auf fast absurde Weise eingeholt.

Du teilst dir das Songwriting mit Reimer Bustorff: Erhält der kreative Prozess dadurch einen Motivationsschub?

Ganz klar: Kettcar 2024 sind eine andere Band, als Kettcar 2001. Unser erstes Album habe ich damals bis auf wenige Ausnahmen textlich alleine gestemmt. Jetzt ist es passiert, dass Reimer ein sehr starker Songwriter geworden ist (lacht). Dadurch ergibt sich eine neue Bandkonstellation, die manchmal spannungsreich ist, die aber auch dazu geführt hat, dass ich mich als Sänger freue, wenn Reimer mit solch einem Brett wie „München” um die Ecke kommt. Gleichzeitig triggert es mich aber auch, sodass ich denke: „Da muss ich jetzt was nachlegen!”

„Der Gestus dürfte klar sein: Es muss sich was ändern.“

Wie schon früher fließen Zitate und Referenzen in eure neuen Texte mit ein: Im Song „Doug & Florence” etwa zitiert ihr The Smiths. Woher kommt diese Freude an popkulturellen Verweisen?

Das ist einfach kreativer Fun! Sich Sätze, die bereits existieren, zu schnappen und in einen neuen Kontext zu setzen. Und so auf eine andere Art erstrahlen zu lassen. Das war schon immer Teil meiner künstlerischen DNA, auch bei Stücken meiner früheren Punkband …But Alive, in denen ich mich beispielsweise auf Monty Python- oder Loriot-Gags bezogen habe. Natürlich hilft diese Form des kreativen Umgangs auch, die Sache hier und da entertaining zu halten. Wer mir nun sagt, ich hätte mich mit der Zeile „Unite and Take Over” bei The Smiths bedient, hat die Popmusik nicht verstanden. Es geht ja nicht um Ideenklau, sondern vielmehr um eine Art „Sample”. Wie bei einem Hip-Hop-Künstler, der einen bekannten Beat in etwas Neues einbettet.

Bleiben wir doch bei eurer zweiten Single „Doug & Florence” – darin singst du von vermeintlicher Chancengleichheit, eben auch in den Zeilen „All ihr Pflegerinnen of the world unite, unite and take over.”

Ein Song gegen jede Form von Neoliberalismus. Gegen jede Form dieses Mantras „Du kannst es schaffen, du musst dich nur genug anstrengen!” Nein, kannst du eben gerade nicht! Nicht alle können es schaffen. Nicht jeder ist seines Glückes Schmied. Meine ureigene politische Haltung ist es, die Gesellschaft immer von den Schwächsten her zu denken. Und wenn du das tust, kannst du dir ja mal anschauen, wie Pflegerinnen, Paketzusteller oder Angestellte in der Gastro ackern, ackern, ackern und dennoch ihre Miete nicht bezahlen können. Den Ärmsten der Armen zu erklären, dass sie sich nur genug anstrengen müssen – das ist keine Gesellschaft, die ich anstrebe. Der Gestus dürfte daher klar sein: Es muss sich was ändern.

NRW-Termine: 13.4. Turbinenhalle 2 Oberhausen, 19.4. Palladium Köln, 25.4. Lokschuppen Bielefeld;
Das Album „Gute Laune ungerecht verteilt” erscheint am 5.4.;
Mehr auf der Website, bei Facebook, Instagram und X

Anzeige
Anzeige

Beste Events, Trends und Reportagen für die Rhein-Ruhr-Region

Inhaltsverzeichnis
Home