„Liebe ist für alle da“: Marcella Rockefeller im Gespräch

Am 10.11. erscheint der Vorbote "Discokugel" zu Marcella Rockefellers zweitem Album, das 2024 veröffentlicht wird. Foto: YoungT Production
Teilen
Teilen

Marcel Kaupp ist im Privaten eher introvertiert, wie er selbst sagt. Als seine Bühnenfigur Marcella Rockefeller dreht er aber richtig auf, ist laut, politisch und Deutschlands rockigste Dragqueen. Wir trafen ihn vor der anstehenden Tour ohne Kostüm und Make-up ganz privat in Köln auf einen Latte Macchiato.

Inhaltsverzeichnis [verbergen]

Marcella Rockefeller: Von Unterfranken ins EU-Parlament

Ende September 2023. Worum dreht sich dein Kopf, Marcel?

Um so vieles. Es ist super viel los. Nächste Woche steht mein Videodreh zur ersten Single an, da muss einiges vorbereitet werden. Ich wohne in Köln, der Dreh ist in Hannover, danach geht’s nach Berlin weiter. Ich muss also immer ein bisschen mehr Zeug mitnehmen. In Berlin darf ich dann die Preise beim Deutschen Musical Theater Preis auf die Bühne tragen, bin aber auch noch im Bundestag zu einem queeren und feministischen Event-Tag eingeladen. Das ist alles total irre. Ich denke immer: „Ich kleiner Knirps aus Unterfranken mache nun was mit Leuten aus dem Bundestag und EU-Parlament…“ Unglaublich.

Was hat dich überhaupt dazu bewegt, mit Drag anzufangen?

Der Kölner Karneval. Ich hätte mir niemals vorstellen können, eine Dragqueen zu sein oder so sogar auf die Bühne zu gehen. Es war zwar immer schon ein bisschen da, ich habe zum Beispiel in der Schulzeit die böse Hexe des Westens im „Zauberer von Oz“ gespielt, aber das war nie ein ernstes Projekt für die Zukunft. Ich habe mir mit mehreren anderen überlegt, dass man Karneval als berühmte Frauen gehen könnte. Zu dem Zeitpunkt war Lady Gaga das Ding, und sich als Lady Gaga zu verkleiden war wirklich ziemlich einfach. Es kam aber jemand auf mich zu, der meinte: „Hey, du singst doch auch, mach doch mal beides zusammen“.

Ich war da erst noch eher verhalten, war aber in Köln bei einer offenen Bühne, auf der jeder machen konnte, was er wollte, bin dort eigentlich auch immer nur als Kerl aufgetreten – bis das Motto „Kölns next Top-Drag“ anstand, ich mitgemacht habe und ein Veranstalter im Publikum mich dann zu seiner Party eingeladen hat, um das dort zu wiederholen. Ich habe mit zwei Freunden Choreos von Lady Gaga auswendig gelernt, dann ging’s los. 2010 das erste Mal dann „Supertalent“ bei RTL mit dem Konzept in derselben Konstellation, hier war das – nachdem es in UK und den USA schon erfolgreich war – dann für Deutschland gerade neu und gefragt, allerdings wurde es zu dem Zeitpunkt noch nichts richtiges. Ich war auch einfach zu jung.

Auch außerhalb der Dragszene hat Marcella Rockefeller viel Aufmerksamkeit bekommen, u.a. als Gewinnerin bei „Das Supertalent“ 2014. Foto: Ferran Casanova

Merkst du denn eine Veränderung, wenn du, Marcel, in dein Alter Ego Marcella schlüpfst, womöglich schon während des Schminkens?

Ja. Extrem. Ich würde mich als Marcel eher als introvertiert bezeichnen. Ich bin ganz oft auch auf Partys eher am Rand. Bin ich aber als Marcella unterwegs, bin ich eher The Centre of Attention. Ich sage immer, ich wäre auch happy, wenn ich das alles tun könnte, ohne dass mich jemand erkennt. Vielleicht sogar eine Art Social Anxiety, die durch Corona entstanden ist. Ich mag Trubel, bin aber auch froh, wenn ich meine Ruhe habe.

Marcella ist eine Art Beschützerin. Sie lässt mich all diese Dinge machen, ohne Probleme zu haben. Ich gehe durch die Massen, gehe auf die Menschen zu. Ein bisschen wie zwei Persönlichkeiten. Wenn man aber seine Kunstfigur selbstkreiert – meine ist nun bereits 15 Jahre alt – wirst du das auch ein Stück weit. Sie lässt mich Sachen machen, die ich im Privaten nicht immer hinbekomme oder nicht möchte. Ich mache Drag als Hommage an all die starken Frauen, die mir in meinem Leben Kraft gegeben haben. Frauen leiden unter dem Patriachat, Queers tun es auch. Das ist mein Mittelfinger dem Ganzen gegenüber.

„Bin ich als Marcella unterwegs, bin ich The Centre of Attention“

Gibt es Tage, an denen du im Privaten lieber Marcella oder auf der Bühne lieber Marcel wärst?

Mein Privates zeige ich meist sehr wenig bis gar nicht. Immerhin ist mein Job, Marcella Rockefeller zu sein. Ich hätte aber schon gerne mal die Leichtigkeit, die Marcella hat, im Privaten. „Scheiß drauf, was die anderen sagen!“. Ich lege im Privaten viel mehr Wert darauf, was andere von mir halten. Das ist unter anderem ein Grund, warum ich nicht bei Drag Race Germany bin. Ich finde es wahnsinnig stark und wichtig für die Community, dass es endlich einen deutschen Ableger gibt und auch dieser für Sichtbarkeit sorgt. Ich allerdings sehe es als schwierig, Drag zu vergleichen und zu „kritisieren“. Weil einfach jeder vollkommen verschiedene Beweggründe hat, weswegen er:sie mit Drag angefangen hat. Allerdings kann man natürlich schon beurteilen, ob die Stagepersona Personality hat. Ich schalte auf jeden Fall ein, sehe mich selbst aber nicht unter den Kandidat:innen. Sollte es eine zweite Staffel geben –  I‘m here to be a Guest Judge. (lacht)

Hat sich für dich Drag um dich herum weiterentwickelt, seitdem du es machst?

Das klingt jetzt wieder, als wäre ich 100, aber wir hatten damals ja wirklich nicht so viele Vorbilder. Da gab es vielleicht ein YouTube-Video, in dem man sehen konnte, wie man sich die Brüste schminkt. Das war’s. Da ist die Auswahl nun riesig. Drags sind aus dem Boden geschossen wie Pilze. Irgendwann haben sich Drag-Familien gebildet, zu denen ich aber nie dazu gehörte, weil es nicht ganz funktionierte. Selten hat man sich mal abgesprochen, dass alle Drags zu einer Party ein ähnliches Outfit tragen. Von denen, die mit mir angefangen haben, gibt es nur noch zwei bis drei, die es immer noch machen. Deren Passion ist es dann auch, bei den anderen war es eher ein kurzer Trend.

Aber das Anerkennen von Drag ist heute so viel anders. Ich bekomme so viele liebe, deepe Nachrichten von Menschen, denen ich damit etwas gebe, ihnen vielleicht sogar das Leben gerettet habe, eine Stimme für sie bin – obwohl ich Drag einfach mag und gar nicht immer als Arbeit ansehe. Für mich war es anfangs „Wir sind Badass-Girls“, da steckte keine große Verantwortung drin. Ich habe von Beginn an in meinen Songs immer einen Instrumentalpart eingebaut, in dem ich eine Message an die Community senden konnte. Gegen Slutshaming, Bodyshaming und so weiter.

Auf dem anstehenden zweiten Album gibt es mehr selbstgeschriebene Songs. Foto: Lundlfotografie

In den 2000ern ein queerer Jugendlicher zu sein, ist nicht immer einfach gewesen, weil Queerfeindlichkeit viel gängiger war und weniger dagegen getan wurde. Wie war es für dich?

Ich wusste schon immer, dass ich nicht richtig der Norm entspreche, somit war das auch für mich ein Thema. Mir wurde so früh gesagt, dass es eben Mann und Frau gibt, Frauen Prinzessinnen sind, die von ihrem Prinzen gerettet werden müssen, und dass wenn man als Junge Gefühle für andere Jungs hat, mit einem etwas falsch läuft. Das macht sehr viel mit einem, gerade in der Jugend, wenn du ein gewisses Männlichkeitsbild nicht erfüllst. Für mich sind diese Rollen aber überhaupt nichts, deswegen trägt Marcella oft auch Brusthaar. Frei nach dem Motto: Drag knows no Gender. Es gab auch Zeiten, in denen man mich und mein Liebesleben bestimmt als Schlampe bezeichnet hätte. Aber wenn eine Schlampe sein, bedeutet, dass man liebt und lebt, dann war ich das sehr gerne. Besonders heute, wenn gewisse Parteien immer mehr Stimmen bekommen, ist es wichtig, sich seine Freiheit zurückzuholen, das zu tun, was man braucht und mag.

Marcella Rockefeller über die aktuelle politische Lage

Machst du dir Gedanken um deinen Beruf und deine Person, wenn du aktuelle Prognosen siehst?

Jein. Ich bin auf super vielen Prides unterwegs und finde es wichtig, dass die Menschen die dort sind, gegenhalten. Ich sehe dort so viele Menschen, so viele gibt es meiner Meinung nach bei den wirklich schlimmen Demos und Veranstaltungen des rechten Flügels nicht. Deswegen hoffe ich weiterhin, dass wir genug sind, um mehr zu sein, das früh genug zu checken und zu stoppen. Bei mir ging das auch erst mit Ende 20, Anfang 30 los, dass ich mich für Politik interessiert habe, weil mir der Einfluss zuvor gar nicht bewusst war. Ich sage aber immer: „Lebe so, dass die AfD etwas dagegen hätte.“

Aber auch bei der CDU/CSU werden Drags beschnitten, die im Kindergarten nur ein Märchen vorlesen. Kinder nehmen uns aber fast immer als eine Fabelfigur wahr. Da ist nichts sexuelles. Manches, was einem in der Kirche schon als Kind mit auf den Weg gegeben wird, kann echt traumatisieren und Seelen brechen. Die Institution der Kirche ist für mich der letzte Bullshit. Solang solche Ereignisse passieren, werde ich das Maul nicht halten und kämpfen, auch wenn ich Phasen habe, in denen ich denke, dass ich ohne Schminke und Perücke das Alles vielleicht nicht immer machen würde. Aber wenn ich es hinkriege, dass Kinder und Jugendliche nach dem Aufwachen mit weniger Angst den Alltag bestreiten, werde ich das bis zum Lebensende durchziehen.

Wir kennen alle den Spruch „Ich bin doch nicht Rockefeller“. Haut Marcella gern auf die Kacke und verprasst Kohle ohne Ende?

Der Name ist so entstanden, dass ich bei einem Kumpel auf dem Balkon saß und wir uns witzige Dragnamen ausgedacht haben. Wir haben einfach unsere Vornamen angepasst, so wurde aus Marcel Marcella. Und wir fanden, dass man im Nachnamen richtig reich klingen muss. Also war ich „Rockefeller“. Ich hätte aber niemals gedacht, dass das wirklich mal mein Stage-Name sein wird.

Tatsächlich bietet der Nachname sogar recht viel Angriffsfläche, besonders für QAnon-Anhänger [Anm. d. Red.: Gruppe von Menschen, die Verschwörungstheorien verbreiten, oft mit rechtsextremen Hintergründen. Initiator ist eine Person mit dem Pseudonym Q.], die mir jede Woche private Nachrichten schreiben und unterstellen, ich würde Kinderblut trinken, um jung zu bleiben. Wenn ich das tun würde, hätte ich doch keine Falten, Leute! (lacht) Aber nein, ernsthaft: Ich bin eigentlich eher ein minimalistischer Mensch und finde Geld furchtbar, weil es zu so vielen sozialen Ungerechtigkeiten führt. All das für ein bisschen buntes Papier? Verrückt.

Bei der in Kürze folgenden Single „Discokugel“ hört man, dass Marcella nun auch bei den selbstgeschriebenen Songs einen rockigeren Stil annimmt. Foto: Ferran Casanova

2014 hast du ein zweites Mal beim „Supertalent“ mitgemacht, hast dann sogar gewonnen und bist einem breiten Publikum bekannt geworden. Konntest du da schon so sein, wie du bist und sein wolltest?

Nein. Dieter Bohlen und ich hatten keine richtige Bindung, ist aber vollkommen in Ordnung. Ich habe Respekt für das, was er sich erarbeitet hat, aber wir haben menschlich nicht so gematcht. Ich war einfach mehr mit Lena Gercke und Guido Maria Kretschmer in Verbindung, die ich immer noch ganz toll finde. Ich erinnere mich noch, dass ich am Tag des Finales fast ins Foyer gekotzt hätte vor Aufregung. Meine ganze Familie war da, das war ein richtig schönes Erlebnis. Trotzdem sage ich, dass ich mir nicht sicher bin, ob Castingshows wirkliche Türöffner sind. Man ist eben eine Kandidatennummer in einer Unterhaltungsshow. Mir war das aber absolut bewusst. Heute erwähne ich den Sieg ganz oft nicht mal mehr.

Natürlich haben sich ein paar Sachen danach getan, am Ende hat es mich dahin gebracht, wo ich nun bin – wäre es aber einfacher gewesen, wäre das schöner. Ich bin sehr froh, dass erst jetzt mit Mitte 30 alles so richtig losgeht, weil ich mental gefestigt bin. Vermeintlicher Fame macht mit jungen Menschen wirklich sehr viel. Als ich 2014 gewonnen habe, war ich 26. Ich bin echt so froh, dass es nicht da schon durch die Decke ging. Je schneller du fliegst, desto schneller bist du unten. Kontinuität ist wichtig. Und: Kein Fan in der Welt gibt dir das Recht, dich über andere zu stellen. Ich würde niemals ein Hotelzimmer unsauber verlassen. Wir müssen mehr miteinander machen, damit das Leben für alle ein bisschen schöner wird. Deswegen freut es mich, Musik zu machen, da Musik immer was mit Menschen macht. Egal, ob man sie produziert oder konsumiert.

Wenn man plötzlich mit früheren Vorbildern zusammenarbeitet

Du arbeitest sehr viel mit Peter Plate zusammen. Wie entstand euer Kontakt?

Ich habe früher immer bei Instagram kurze Cover aufgenommen. In den Videos habe ich auch die Leute markiert, die die Rechte an den Songs hatten. Ein Cover war „Vincent“ von Sarah Connor. Peter ist darauf aufmerksam geworden. Erst ein Like, dann ist er mir gefolgt, dann hatte ich eine private Nachricht von ihm. Total irre, weil ich die Musik von Rosenstolz mit der Kindermilch aufgesogen habe. Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ein professionelles Cover aufnehmen möchte. Ich habe mich dann für „Der größte Trick“ entschieden, weil ich die Art des Textens so geil finde. Außerdem hat er mir von seinem Soloalbum „Blauer Sonntag“ vorgeschlagen.

Wir haben Anfang 2020 die Songs aufgenommen – und dann kam Corona. Ich hatte das Gefühl, das Universum hasst mich. Warum genau jetzt, wenn ich die Chance habe, mit einem der größten Komponisten in Deutschland zusammenzuarbeiten? Einige Zeit später war ich aber in Berlin bei Peter und Ulf eingeladen, und mitten auf der Straße am Savignyplatz haben die beiden mich gefragt, ob ich mit ihnen ein ganzes Album machen möchte.

Da beide sehr tief mit ihrem Musical „Ku’Damm 56“ beschäftigt waren, haben wir uns für ein „Marcella singt Plate und Sommer“ entschieden. Passte auch gut zu dem entschleunigten Corona-Gefühl. Etwas voller Emotionen. Und eben Cover, die von den Leuten abgenickt wurden, die sie geschrieben haben. Manchen Fans gefiel das zunächst nicht so, was ich auch verstehen kann. Mir würde das auch nicht gefallen, wenn nun jemand alle Lady-Gaga-Songs neu aufnehmen würde. Wer weiterhin AnNa R. hören möchte, kann das aber ja auch tun. Bei „Ich hab‘ genauso Angst wie du“ haben viele hingegen erkannt, dass sich der Blickwinkel auf Songtexte auch ändern kann, zum Beispiel wenn eine Drag einen Song von homosexuellen Männern singt. Am Ende kam bei dem Projekt eines zum Anderen. Duette mit Ross Antony, Lucy Diakovska. Namen, die mir im Traum nicht eingefallen wären. Vielleicht kommt da auch noch mehr beim nächsten Album. Abwarten.

Eine andere innige Beziehung hattest du anscheinend auch zu deiner Oma, der du einen ganzen Song gewidmet hast, „Original“. Wer sind deine Inspirationsquellen? Private wie öffentliche Menschen.

Auch wenn es wahrscheinlich jeder sagt, ist es bei mir eindeutig meine Familie. Mit der hatte ich wirklich Glück, was meinen Lebensweg anging. An vorderster Front meine Großmutter, die die größte Kämpferin auf der Welt für mich war. Ansonsten sehe ich in so vielen Leuten etwas. Ich lese Interviews, tauche in Biografien ab und verstehe auch heute immer mehr, wie viel Arbeit dahintersteckt. Das entspricht nicht dem ausgemalten Kindheitstraum, einfach Sänger zu werden. Deswegen könnte ich auf Social Media immer ausrasten, wenn ich da Kommentare lese wie „Die müssen doch auf der Bühne nur ein bisschen singen“.

Der Rattenschwanz, der dranhängt, ist riesig. Ich muss mich allein zwei Stunden stylen, bevor ich auf die Bühne gehe. Eine Inspiration ist aber Georg Preuße, also Mary. Voller Ehrfurcht möchte ich immer Danke sagen. Danke fürs Wegbereiten. Oder auch Olivia Jones. Übrigens passieren mir und zig anderen Drags es immer wieder, dass sie für Olivia gehalten werden. Nach dem Motto: „Gibt doch nur die eine“. Das liegt aber an den Medien, die eben oft nur Olivia zeigen und hervorheben, auch wenn sie im Dschungelcamp ihr Standing wirklich fantastisch durchgezogen hat.

Marcella Rockefeller kommt nun mit einer Tour und neuem Album zurück

Im November kommt deine erste Single zum zweiten Album, „Discokugel“. Die ist dreckig, rotzig, anders. Warum genau dieser Song als Vorbote?

Genau aus dem Grund. Sie ist selbstgeschrieben. Jetzt ist nämlich mal Me-Time. Peter schaut da eher als Mentor drüber und gibt nur kleine Tipps, was man vielleicht an der Melodie noch feiner machen könnte. Am Anfang hieß der Song übrigens „Discopudel“. Es ist irre, wie lang solche Songprozesse dauern können. „Discokugel“ ist in Katerstimmung in Hannover entstanden. Wir sind zwischendrin feiern gegangen neben dem Schreiben. Genau nach so einer Clubbingnacht wurde der Song geboren. Die Discokugel ist der Ort, unter dem wir für mich alle gleich sind. Die Nacht knallt und du liebst und lebst das Leben.

Das neue Album habe ich komplett mit meiner vor zwei Jahren zusammengewürfelten Band aufgenommen und ist somit keine Fortsetzung zum Vorgänger. Wir hatten vor unserer ersten Tour im Herbst ‘21 zwei Probentage und dann den ersten Auftritt. Absoluter Wahnsinn. Die Zeit von Peter und Ulf ist sowieso immer wirklich begrenzt, deswegen haben wir das neue Album nicht komplett mit ihnen geschrieben. Eine tolle Ballade ist aber von Peter, „Liebe ist kein Einzelfall“. Und ein paar Cover gibt’s auch wieder. Wir planen die Veröffentlichung fürs erste oder zweite Quartal in 2024. Wird auf jeden Fall rockig – Dragrock, wie ich es gern nenne – und auf die Fresse. Und viel Sex. Auch wenn wir jetzt was anderes und eigenes machen, wünsche ich mir aber natürlich weiterhin, dass es gefällt.

Die nun kommende Tour heißt „Ich mach schon mal den Abwasch!“. Ist das ein Insider?

Das ging alles mal wieder total schnell. Plötzlich hatten wir Termine, aber keinen Tournamen. Der Albumtitel ist auch noch nicht final, sonst hätten wir die Tour danach benennen können. Vielleicht nennen wir die Platte auch noch „Ich mach schon mal den Abwasch!“. Einfach mal feucht durchwischen – damit kann man super viel spielen. Ich habe noch einiges in petto. Es ist einfach zweideutig, witzig und klingt cool.

Was nimmst du aus deiner letzten Tour mit und machst du dieses Mal anders?

Die Leute bekommen eine um zwei Jahre gealterte Dragqueen. (lacht) Es gibt viele Songs, die noch niemand kennt. Ich gehe nicht mehr verkopft an die Sache und habe nicht mehr das „Du musst abliefern“-Gefühl. Wir haben in den letzten zwei Jahren so viel gespielt, ständig ist mal was schief gegangen. An den Drums, an den Keys, an der Gitarre. Ich mache mich davon nun freier. Entspannter, aber nicht weniger wild.

„Ich mach schon mal den Abwasch“ lautet der Name der Tour, die am 8.11. beginnt. Der Startschuss ist in Bochum. Foto: Ferran Casanova

„Mir ist sehr wichtig, dass meine Fans ein sicheres Gefühl haben.“

Gibt es etwas, was auf der Tour auf gar keinen Fall passieren darf?

Ich briefe die ganzen Sicherheitsleute vor Ort, welche Art von Veranstaltung das ist. Mir ist sehr wichtig, dass meine Fans ein sicheres Gefühl haben. Ich möchte, dass keiner blöd angemacht wird, alle Spaß haben. Ich erinnere mich, dass parallel zu meinem letzten Konzert in Hannover in einer queeren Location ein Anschlag passiert ist. In dem Moment, in dem wir die geilste Zeit hatten und andere in ihrem Safespace ihr Leben ließen. Niemand darf sich bei mir unwohl fühlen, egal in welchem Merkmal. Wenn die Leute sich gut fühlen, spüre ich die Energie auch auf der Bühne. Deswegen zeige ich auch mit der Musik, ganz besonders mit den Texten, dass sich Menschen verstanden und ok fühlen können.

Beschreibe einen Tagesablauf während der Tour. Was passiert nach dem Aufwachen?

Stress, nur Stress! Ich kenne Kolleg:innen, die wissen drei Wochen vorher, was sie anziehen. Das gibt’s bei mir nicht. Ich packe meinen Koffer mit vier, fünf Outfits und vier, fünf Perücken. Manchmal springe ich noch in der jeweiligen Stadt kurz in einen Shop, um was zu kaufen. Ich kann nicht gut im Voraus planen. Marcella ist genauso verbummelt wie ich. Dann geh ich zwei, drei Kaffee trinken, muss alles in meinem Kopf sortieren.

Nach dem Soundcheck bleibe ich gern in der Location und mache mich zwischen 27 Minuten und vier Stunden – je nach Stresslevel – fertig. Ein kurzer Post bei Instagram, ja, zu dem muss ich mich auch noch zwingen. Voll oft vergesse ich die Transition von Marcel zu Marcella zu filmen. Ansonsten gibt’s Essen und Vorfreude. Mein Lieblingsmoment ist dann der, wenn ich auf die Bühne gehe und alles, was sich angestaut hat, herauslassen darf. Bei „Original“ kann ich den Menschen oft nicht ins Gesicht sehen. Wenn die weinen, trifft mich das sehr tief und ich kann nicht weitersingen.

Was ist dein ganz persönliches Ziel?

Glücklich zu sein. In Ruhe zu leben. Auch wenn ich das heute schon wesentlich besser kann als die Queeren der 60er und 70er. Wir müssen denjenigen danken, die die Bewegung gestartet haben. In Deutschland kann man zwar privilegiert leben, aber nur wenige hunderte Kilometer weiter, sieht das ganz anders aus. Deswegen: Durchhalten, gegenhalten, weitermachen. Liebe ist für alle da.

Nächster NRW-Termin: 8.11., Rotunde Bochum; weitere für 2024 folgen in Kürze
Mehr auf der Website, bei Instagram, Facebook und TikTok.

Anzeige
Anzeige

Beste Events, Trends und Reportagen für die Rhein-Ruhr-Region

Inhaltsverzeichnis
Home