Sie sind ohne Zweifel der deutsche Must-Seen-Act 2023: Electric Callboy sind aktuell nicht mehr zu halten. Zum zweiten Mal fand vergangenen Samstag in der Rudolf Weber-Arena in Oberhausen ihr eigenes Festival statt, das „Escalation Fest“.
Electric Callboy: Von Castrop-Rauxel in die weite Welt
Das 2010 in Castrop-Rauxel gegründete Sextett hat mal klein angefangen. Zwar läuft es schon nach kurzer Zeit in der Metalcore-Szene ziemlich gut, aber man funktioniert eben nur dort. Eine gute Dekade später sind aber Sänger Nico, Shouter Kevin, die Gitarristen Daniel und Pascal sowie Drummer David nicht nur regionale Stars, sondern verkaufen Hallen weltweit. Ja, richtig gelesen, da steht „Welt“. Länder gefällig, die 2023 bereist wurden? Alright: USA, Kanada, Finnland, Frankreich, UK, Dänemark, Ungarn, Schweden, Norwegen, Polen, Belgien, Tschechien, Portugal, Spanien, Italien. Ach, kommt, wir nehmen noch den Dezember 2022 dazu, da gab es nämlich eine Tour in Australien.
Ein eigener Sound, dem man nicht entkommt
Eine Ruhrpott-Band, die auf mehreren Kontinenten funktioniert. Das ist absoluter Wahnsinn. Wir sprachen im letzten Jahr zum Release des aktuellen Albums „Tekkno“ mit Shouter Kevin, der probierte, ein wenig in Worte zu fassen, wie dieser Megahype entstand. Ein Hauptgrund ist das Aufbrechen von Genregrenzen. Techno, Metal und Schlager schließen sich aus? Nicht bei Electric Callboy. Stattdessen werden die attraktivsten Versatzstücke herausgenommen und neu zusammengeschoben. Das Ergebnis: Ein sehr energiegeladener, schneller Sound, der zum Bewegen animiert, in einem extrem viel Power auslöst, die direkt entladen werden kann. Und ganz nebenbei gibt es Ohrwurmhooks am Fließband, sodass selbst die Pop-Fraktion damit connecten kann. Erstmalig bedeutete das für die Jungs Platz 1 in den Albumcharts.
Escalation Fest, Runde 2: Electric Callboy laden ein
Somit kein Wunder, dass im März ebenso erstmalig die Lanxess Arena in Köln vollgemacht wird und ein halbes Jahr später – noch ein Stückchen näher an der Heimat – auch die Rudolf Weber-Arena in Oberhausen bis auf einige Plätze im Oberrang komplett eskaliert. Ist ja auch das „Escalation Fest“, das eigene Festival der Band, das zum zweiten Mal nach der Premiere 2022 stattfindet. Um mit der Furore-Band richtig steil zu gehen, dauert es eine Weile. Erst um 21:40 Uhr geht der Headliner los, dabei startet der Einlass schon um 15 Uhr. Doch die sechseinhalb Stunden können mit einem wirklich abwechslungsreichen und durchgetakteten Programm locker rumgekriegt werden: Draußen vor der Halle gibt es Foodtrucks, Aktionen von unterschiedlichen Sponsor:innen, in der unteren Etage indoor wartet eine Gaming Zone und selbstredend läuft überall passende Musik. So kann man bei frischer Luft Bizkit Park hören, eine Limp-Bizkit- und Linkin-Park-Coverband aus Belgien, die auf ihrer kleinen Truckbühne sogar schon Pyros zünden und während den Umbaupausen auf der Mainstage einen Old-School-Hit nach dem nächsten abfeuern.
6x Support
In der Halle werden, so wie es Electric Callboy eben tun, Acts gezeigt, die man so wohl nicht zusammenwürfeln würde, weil sie unterschiedlichste Genres bedienen, aber genau das den Reiz ausmacht. The Butcher Sisters (Rap-Metalcore aus Mannheim) eröffnen, dann folgen Future Palace (Female-Fronted-Post-Hardcore aus Berlin), die einige schon als Vorband im Frühjahr sehen durften. International wird es mit den echt talentierten Franzosen von Rise of the Northstar (Rap-Metalcore), anschließend gibt es dann jedoch mit Mehnersmoos (Frankfurt am Main) skurrilen Comedy-Rap in K.I.Z.-Manier. Den Abschluss des Anheizens bilden Swiss & Die Andern mit vielen politischen Messages, teils gesprochen, teils in Punk-Rock verpackt.
Electric Callboy: 95 Minuten in your Face
Schon während der Vorbands gibt der bereits seit Wochen ausverkaufte Innenraum alles. Viele tragen Kostüme, die an Videos der Gruppe angelehnt sind. Andere haben einfach das Karnevalsoutfit von der Stange geholt und kommen als übergroße Banane. Circle Pits gibt es bei fast jedem Song, nahezu im Minutentakt werden Leute beim Crowdsurfen vor der Bühne von den rund 20 (!) Securities aufgefangen. Natürlich erreicht das Spektakel zur späten Stunde den Peak, wenn Electric Callboy für etwas mehr als anderthalb Stunden alles – im wörtlichen Sinne – abfeuern, was eine Bühne so hergibt.
19 Songs, darunter schon mittlerweile Kulthits wie „Hypa Hypa“, „We Got The Moves“, „Spaceman“, der leider nicht Eurovision-Song-Contest-Beitrag 2022 „Pump it“ und der Schlager-Metalcore-Crossover-Irrsinn „Hurrikan“ werden alle mit lauten Zurufen, viel Moshen, Hüpfen und literweise laufendem Schweiß entgegengenommen und zelebriert. Optisch gibt es neben riesigen Bildschirmen mit grellen wie düsteren Farben vor allen Dingen unzählige Konfettibomben, aber ganz besonders das wohl schnellste und völlig reizüberflutende Indoorfeuerwerk, was geht. Feuerregen von der Decke, dann Flammenwerfer, dann Explosionen, dann plötzlich ein Akustikblock an einem Penis-Piano. Der geht zwar technisch für einige Minuten ganz schön daneben, weil das Klavier nicht so will, wie Kevin es will, aber hey. So oder so lautet die Devise von Electric Callboy: Manchmal ist mehr eben mehr. Trotz heftiger Aktionen scheint im Innenraum am Ende jeder zwar aus der Puste, dafür aber niemand ernsthaft verletzt zu sein.
Einer der besten deutschen Live-Acts der Zeit
Electric Callboy sind mit ihrer Musik vielleicht nicht der Cup of Tea von jedem, aber sie sind enorm eigenwillig und treffen den totalen Zeitgeist. Mutig zusammengeschüttet, voll durchgezogen, unbändige Energie, eine Portion Selbstironie und auf dem Boden gebliebene Jungs, die sich immer wieder dafür bedanken, wie heftig das alles gerade ist. Ein Muss für Fans von großen Konzertproduktionen, ein Muss für Leute, die in irgendeiner Form „Rock isn’t dead“ im Herzen tragen und ein wenig irre sind. Dem Sog der Castroper kann man sich nur schwer entziehen. Escalation Fest 2024 wurde am Ende der Show angekündigt, Termin folgt. Wer braucht da schon Schlamm-Wacken…
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