Oh Leute, tut es euch auch schon so weh, wenn die Sonne bereits um halb 9 am Himmel verschwindet? Zum Glück sagen die aktuellen Wetterprognosen, dass noch einige warme Tage anstehen. Pflanzt euch mit einer Decke auf die Wiese, vergesst die Kopfhörer nicht und checkt die besten neun EPs und Alben von NRW-Acts, die in den letzten Wochen rauskamen – oder in wenigen Wochen noch kommen werden. Teil 5 unserer Reihe „Musik von hier“ im Jahr 2022.
Janou – Fluid Ground
Absolute Überraschung aus Bochum: Janou haben es mit ihrer sieben Tracks umfassenden EP geschafft, ausschließlich gute bis sehr gute Songs zu präsentieren. Das Alternative-Pop-Duo weiß mit sphärischen, leicht elektronischen Beats und einer rauchigen, fesselnden Altstimme auf Anhieb zu begeistern. Da funktioniert ein Coversong wie der Black Keys-Bop „Lonely Boy“ als „Lonely Girl“-Version genauso gut wie die eingängige Leadsingle „Down“. Der wahre Emotionshöhepunkt ist jedoch mit der uplifting Klavierballade „Solitude“ erreicht, das von bekannten Sängerinnen gesungen auch ein weltweiter Hit wäre. Kennengelernt haben sich die Beiden in einer Bar. Bochum das neue London? London Grammar x Zoe Wees. Bloß entdecken, bevor alle anderen es tun werden. Das werden sie nämlich. Gut so. (Bereits veröffentlicht)
Bobby Fletcher & Koljah – Vielleicht ist es besser so
Neumodischer Deutsch-Rap, hau rein! Bobby Fletcher & Koljah bringen gemeinsam den Flair zurück, als deutscher Rap zwar schon eine große Fanbase besaß und hin und wieder in den Charts vorzufinden war, aber noch nicht mit möglichst wenig Aufwand am Fließband produziert wurde. „Vielleicht ist es besser so“ ist ein absolut hervorragendes Album mit klugen Lyrics und Sounds, die einen direkt 20 Jahre zurückversetzen. Da werden Erinnerungen an Samy Deluxe, Curse, Freundeskreis, Kool Savas oder Azad wach. Mag daran liegen, dass einige Songideen bereits seit dem 00er-Jahrzehnt in den Schubladen verweilen. Koljah, der mit der Antilopen Gang eh einer der Größten im gegenwärtigen Game ist, bringt seinen Düsseldorfer Kindheitsfreund Bobby Fletcher hier ganz groß nach vorne. Gemeinsam entstehen 40 Minuten voller Tracks mit Wiederhörfaktor. Gänsehaut-Highlight: „Sowas von nichts“ mit der 3p-Legende Illmatic. (VÖ: 23.9.)
Long Distance Calling – Eraser
Gute, erfolgreiche, instrumentale Musik aus NRW? Da kann nur von Long Distance Calling die Rede sein. Die Münsteraner haben nach ihrer EP „Ghost“ aus dem Vorjahr, die in einer Livesession eingespielt wurde, nun wieder ein Album am Start, für das sich wieder mehr Zeit genommen wurde. Das kann in der Qualität problemlos an den kommerziell erfolgreichen Vorgänger „How Do We Want To Live?“ anknüpfen, mit dem das Post-Rock-Quartett erstmalig die Top 10 der Albumcharts knacken konnte. Die fast eine Stunde, die „Eraser“ umfasst, zaubert wieder teils nach vorne gehende Energizer („Giants Leaving“), teils nachdenkliche Nummern mit Weltuntergangscharakter („Sloth“). Eben genau das, was man von der musikalisch avancierten Band erwartet. Treibend, progressiv und so voller Wechsel („Blood Honey“), dass man Gesang abermals keine Sekunde vermissen braucht. (Bereits veröffentlicht)
Charly Klauser – Mehr
Diverse Instrumente eingespielt, Songideen selbst entwickelt, fast alles im Alleingang geschrieben und produziert: Die Kölnerin Charly Klauser hat für ihr Debütalbum geklotzt und nicht gekleckert. Ihr Anspruch an sich selbst ist durch ihren Aufstieg in der Riege der gefragtesten Musikerinnen des Landes nur nochmal gestiegen. Peter Maffay, Johannes Oerding, Die Ärzte, Tim Bendzko, Alvaro Soler, Sasha – bei allen hat sie schon gespielt oder gar mit ihnen gesungen. Zusätzlich sieht man sie regelmäßig in der Band der „Carolin Kebekus Show“. Auf „Mehr“ ist sie aber ganz nah bei sich selbst und vertont ihre sehr verletzlichen, emotionalen Gedanken. Songs wie „Zuhaus“, „Ich muss gar nichts“ oder das hervorstechende „Im Überall“ bringen wohl viele Zuhörer:innen zum melancholisch-zustimmenden Nicken. (Bereits veröffentlicht)
Schramm – I Made This For Myself (I Didn’t Make It For You)
23 Jahre jung ist Arne Schramm aus Wuppertal. Heißt, er ist kurz vorm Millennium geboren, klingt aber fast so, als hätte er seine Musik zur Hochzeit der 80s aufgenommen. Mit groovigem New-Wave-Indie-Pop bewaffnet gehen die sechs Songs der Debüt-EP „I Made This For Myself“ flott ins Langzeitgedächtnis und in die Beine. Hooks wie die von „Mehr Zeit mit dir“ begleiten einen bis zum Schlafengehen, was nicht mal unangenehm ist. Vorher hat sich das junge Talent übrigens überwiegend um Musikvideoproduktionen gekümmert. Nun sind seine eigenen Ergüsse dran, die abwechslungsreich und für Anfang 20 äußerst reif klingen. Mal sehr dancy, siehe „Off without me“, dann eher Lagerfeuer-like, siehe „Streichholzmann“. Potenzial ist nicht von der Hand zu weisen. (Bereits veröffentlicht)
Jules Ahoi – Melancholic Dreamwave
Ist das Singer/Songwriter-Mucke aus UK? Nein, Jules Ahoi aus Köln. Der liefert mit „Melancholic Dreamwave“, das seinem Namen wirklich alle Ehre macht, sein gar achtes Studioalbum. Die Erfahrung hört man den zehn größtenteils schwermütigen, aber auch intimen und persönlichen Titeln an, die wohl für den perfekten Summertime-Sadness-Sound stehen. Eingespielt hat der Künstler die Tracks ganz allein im Lockdown, erst bei den Feinschliffen kamen weitere Musiker:innen dazu. Die Aufnahmen geschahen so weit wie nur möglich analog, also richtig old fashioned. Passt super. Zwei Teile, die sich gegenüberstehen, stellt das Album mit je fünf Songs den Zuhörer:innen bereit. Der rote Faden ist eindeutig die Stimmung. Wer es etwas leichter mag, hört in „Lost In The Light“ rein, für die dunklen Rotweinmomente wartet „The Past“ auf uns. (Bereits veröffentlicht)
Jens Friebe – Wir sind schön
Album Nr. 9 und das fünfte in Folge, das mit Abstand von vier Jahren erscheint. Jens Friebe hat ein klares Konzept in vielerlei Hinsicht. Der Mittvierziger aus Lüdenscheid ist Musikwissenschaftler, Journalist, Philosoph sowie Musiker und vereint auf seinem neuen Werk „Wir sind schön“ viele Komponenten, bei denen immer wieder eine Facette hervorblitzt, die er beherrscht. Gesellschaftskritik, große Fragen, tiefergehende Beobachtungen, ein wenig Jazz, ein wenig Soul. Besonders die gegenwärtige Zeit lockt aus ihm noch etwas mehr Bittersüße und Melancholie hervor, sodass die Instrumentierungen häufiger heruntergeschraubt werden, es manchmal etwas lethargisch und dann aber wieder hoffnungsvoll klingt. Besonders schön vereint dies der ohrwurmartige NDW-Indie-Popper „Der Wahn“. (VÖ: 30.9.)
The Düsseldorf Düsterboys – Duo Duo
Wenn man schöne Akustikgitarren als Basis hört, darüber leicht lethargischer, fast schon Mantra-artiger Gesang liegt und das Ergebnis wie Schwarz-Weiß-Bilder klingt, weiß man, dass man die neue Platte der Düsseldorf Düsterboys hört. Peter und Pedro aus Essen, die viele auch von International Music kennen, haben wieder 40 Minuten Film-Noir-Musik erschaffen, die mit Anfang Oktober keinen besseren Veröffentlichungstermin haben könnte. Das ist pure Herbsttristesse, bittersüßer Liedermacher-Sound mit teils orchestralen Einsätzen und außergewöhnlicher Lyrik, die sich um Zweisamkeit dreht. Nichts, was man mal eben konsumiert, dafür sehr viel, wenn man gerade etwas mehr Aufmerksamkeit übrighat. „2016“ ist so ein Beispiel, wie es klingen sollte. Zweites Album in zehn Jahren Bandgeschichte. Hoffentlich ist der Output in der nächsten Dekade umfangreicher. (VÖ: 7.10.)
Thea Soti – ØVER+
Begeistert gewesen von den letzten, sehr experimentellen Alben von Björk? Dann Ohren auf, denn Thea Soti macht Musik, die exakt in diese Richtung geht. Die gebürtige Ungarin nahm ihr Solodebütalbum in Berlin auf, ist jedoch teils in Köln, teils in Paris ansässig. Eine örtliche Limitierung gibt es für die Experimentalkünstlerin somit nicht, genauso wenig lässt sie sich in ihren Arbeiten einschränken. Fast eine halbe Stunde lang präsentiert die 33-jährige eine LP, die wirkt wie ein Gang durch eine moderne Kunstausstellung. Soundwaben, blubbernde Geräusche, stark nach vorne gemischte Parts mit verfremdeter Stimme, die mal erzählen, mal lautmalerisch funktionieren. Das ist äußerst fordernd, manchmal ohrenbetäubend und angsteinflößend, manchmal verträumt. Auf keinen Fall für jedermann, aber für manche ganz besonders. In einem Rutsch durchhören. (Bereits veröffentlicht)
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