Im Rausch: Kleists Amphitryon im Theater an der Ruhr

Amphitryon von Kleist wird im Theater an der Ruhr zum Rausch. Im Bild Leonhard Hugger und Alina Heippe. Foto: Franziska Götzen
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Theater ist der Ort, an dem Geschichten lebendig werden, Emotionen aufblühen und die Grenzen der Vorstellungskraft erweitert werden. In Nordrhein-Westfalen gibt es eine vielfältige Theaterszene, die für jeden Geschmack etwas zu bieten hat.  Wenn ihr neugierig seid, mehr über Theateraufführungen, kulturelle Veranstaltungen und Szeneleben in NRW zu erfahren, bleibt dran und lasst euch inspirieren!

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Rausch 3 im Theater an der Ruhr

Das Mülheimer Theater an der Ruhr ist auf der dritten Theaterinsel der Spielzeit angekommen. Mit Rausch 3 untersuchen die Theatermacher:innen die Grenzen des Bewusstseins und laden ein, darüber hinauszugehen. Neben Inszenierungen gibt es an den Veranstaltungstagen auch Performances, Workshops, Konzerte, Diskurse, Kunstinstallationen, Theaterführungen und Partys.

Amphitryon auf der Suche nach sich selbst. Im Bild: A. Heipe, G. Weber, B. Vander, L. Hugger (vorne), Foto: Franziska Götzen

Zum Thema „Bewusstsein“ und dessen Grenzen beziehungsweise der Grenzüberschreitung sind die Arbeiten Heinrich von Kleists nahezu perfekt. Immer geht es bei ihm um die „Goldwaage der Empfindungen“, um die Diskrepanz zwischen vermeintlich unerschütterlichem Wissen und der gegebenen Situation. In „Amphitryon“ kommt die Erfahrung der bröckelnden Identität im Komödiengewand daher.

Amphitryon

Jupiter, der Göttervater, und sein Bote Merkur mischen sich als Menschen getarnt unter die Sterblichen. Jupiter nimmt die Gestalt des Amphitryon an, um die schöne Alkmene zu verführen, während Merkur sich als Diener Sosias ausgibt. Diese Verkleidung führt zu einer verwirrenden Verwechslungskomödie, in der Alkmene und ihr Ehemann vor große Herausforderungen gestellt werden, denn am nächsten Morgen kehrt der echte Amphitryon nach Hause zurück. Er ist irritiert und empört von den Erzählungen Alkmenes und versucht vergeblich, zu beweisen, dass er der echte Amphitryon sei.  Letztlich verhindert Jupiter als Doppelgänger die schlimmsten Konsequenzen, indem er sich dem Ehepaar offenbart. Mit dem wohl berühmtesten „Ach“ der Weltliteratur, Alkmenes Seufzer in Anbetracht der Verwirrung, endet das Drama.

Es geht um nicht weniger als um Identität und Wahrnehmung, um Gewissheiten und Verwirrung des sicheren Gefühls – die „Goldwaage der Empfindung“ ist bei Kleist ein ständiges Motiv.

Rauschhafte Inszenierung

Eine leere Bühne mit historisierenden Barock-Gassen. Sosias tappt unsicher durch das Dunkel. Am Ziel wird er von Merkur aufgehalten, der behauptet, Sosias zu sein. Die Verirrung um die eigene Identität nimmt ihren Lauf.

In der Regie von Philipp Preuss gibt es nicht nur die Doppelgänger Jupiter und Merkur, die für Identitätskrisen sorgen. Er löst grundsätzlich auch die Grenzen zwischen den Figuren auf. Auch die Frauen Alkmene und Charis sind mehrfach besetzt, es gibt keine festen Rollenzuteilungen. Texte werden von allen im Chor gesprochen, mitunter spricht eine:r und die anderen bewegen synchron ihre Lippen. Sprache als Verwirrspiel. Die Videowand an der Rückwand der Bühne tut das ihrige, die Videokünstlerin Konny Keller projiziert Live-Bilder und unendliche Verdopplungen der Figuren. Technik, die begeistert!

Alkmene (Alina Heipe) vor dem überlebensgroßen Amphitryon/Jupiter (Leonhard Hugger) auf der Videowand. Foto: Franziska Götzen

Eindrucksvoll zeigen Preuss und sein Ensemble, dass die Situation, in die die Götter die Menschen stürzen, beileibe nicht komödiantisch ist. Die existentielle Bedrohung gleicht in der Lesart des Theaters an der Ruhr einem bösen Traum, aus dem man hofft, wieder aufzuwachen. Sie führt zu rauschhaften Exzessen, die durch Bühnennebel und Derwischtänze ausgedrückt werden. Dass nicht nur die Männer Amphitryon und Sosias diese Krise durchleben müssen und dass ein Chor den Eindruck der bedrohlichen Lage noch verstärkt, zeigt die Allgemeingültigkeit der großen Frage „Wer bin ich?“ für die moderne Gesellschaft.

Auch Charis, Gattin des Sosias, ist mehrfach auf der Bühne und als Projektion zu sehen. G. Weber, A. Heipe, B. Vander. Foto: Franziska Götzen

Komische Momente gibt es in der Inszenierung trotzdem. Das liegt an dem intelligenten Einsatz der Videotechnik und am rasanten Spiel mit Kostümen und Perücken. Als „Haupt-Sosias“ (bzw. „Haupt-Merkur“) sorgt auch Felix Römer für Lacher, wenn er etwa in unterschiedlichster Weise aus den Gassen über die Bühne joggt, hüpft und mäandert. Leonhard Hugger als „Haupt-Amphitryon“ (und „Haupt-Jupiter“) hat sichtlich mit seinen Erlebnissen und Erfahrungen zu kämpfen.

Nach kurzweiligen 90 Minuten ist der Rausch vorbei – die Krise ist dank göttlichem Eingriff überstanden.

Wer mit der Erwartung, den „ganzen“ Kleist zu sehen, in das Theater an der Ruhr kommt, wird enttäuscht werden; wer sich aber mit einer spannenden neuen Lesart auseinandersetzen möchte und die Kleistsche Essenz des Stücks im Extrem erleben möchte, findet dies in dieser Inszenierung.

Ensemble und Aufführungen

Amphitryon von Heinrich von Kleist, Theater an der Ruhr.
Weitere Aufführungen am 24.3., 11.–13.4.

Regie: Philipp Preuss; Bühne: Sara Aubrecht; Kostüm: Eva Karobath; Dramaturgie: Konstanze Fröhlich; Video: Konnie Keller; Musik: Kornelius Heidebrecht; Lichtgestaltung: Jochen Jahncke; Ton: Uwe Muschinski; Requisite: Kemal Kikicli; Maske: Suzana Schönwald; Regieassistenz: Toby Stöttner
Es spielen: Alina Heipe, Leonhard Hugger, Felix Römer, Berit Vander, Gabriella Weber
Chor: Lina Bleckmann, Constanze Fröhlich, Sara Gohr, Zelal Kisin, Lotte Peters, Beliz Senol, Jolie Sieger

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