Wann hat man denn heutzutage noch mal Zeit, ein Buch zu lesen? Im wohlverdienten Urlaub zum Beispiel: Nirgends liest es sich so schön wie am Strand, abgesehen von der gelegentlichen Sandböe. Manchmal fällt die Entscheidung aber nicht leicht, was man nun mitnehmen soll. Ist ja schließlich auch alles Gepäck. Um dir diese Entscheidung zu erleichtern, haben wir eine kleine Liste mit unseren persönlichen Empfehlungen und Bücher-Tipps für deinen nächsten Sommerurlaub zusammengestellt.
Lesefaul?
Erich Kästner | Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
Berlin in den 1920er-Jahren: Jakob Fabian, seines Zeichens Doktor der Germanistik, arbeitet unterqualifiziert als Werbetexter für Zeitungsgewinnspiele. Er wandert als distanzierter Beobachter durch die sich zunehmend politisch extreme und entmoralisierte Hauptstadt der Weimarer Republik und versucht sich moralisch über Wasser zu halten, ohne selbst als Akteur in den Vordergrund zu treten. Kästner behandelt in seinem von den Nationalsozialisten indizierten Werk da Spannungsfeld zwischen Idealismus und Realismus, Aktionismus und Pragmatismus sowie der Verantwortung des Einzelnen in Zeiten der politischen Extreme, was der heutigen Zeit mit ihren gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen vielleicht gar nicht so fern ist.
Erich Kästner, Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, Taschenbuch, Atrium Verlag 2017, 272 Seiten.
Ernest Hemingway | Der alte Mann und das Meer
Das perfekte Buch für den Strandurlaub: Ernest Hemingway fasst den Kampf, die Einsamkeit und die Erfüllung des alten kubanischen Fischers Santiago, wie er sich vom Pech verfolgt alleine den Gezeiten aussetzt, in unter 200 Seiten derart fesselnd zusammen, dass man das Buch überhaupt nicht aus der Hand legen mag. Unter anderem dafür erhielt der Wahlkubaner den Pulitzer- und den Literaturnobelpreis. Das spricht ja für sich. „Der alte Mann und das Meer“ jedenfalls ist die perfekte Wahl für alle, die sich von allzu dicken Büchern abschrecken lassen und trotzdem nicht auf ihr Stückchen Weltliteratur verzichten wollen.
Ernest Hemingway, Der alte Mann und das Meer, Taschenbuch, Rowohlt Verlag 2014, 160 Seiten.
Christian Kracht | Imperium
Der Vorzeigeautor der deutschen Popliteratur, Christian Kracht, begibt sich mit seinem vierten Roman „Imperium“ auf Spurensuche nach den Abenteuer- und Kolonialromanen der Jahrhundertwende, nur um diese Gattung dann überspitzt und ironisch ad absurdum zu führen. Im Mittelpunkt der Handlung steht der deutsche Aussteiger August Engelhardt, der auf einer deutsch-kolonialen Südseeinsel seine These unter Beweis stellen will, dass der Mensch sich einzig und allein von der Kokosnuss ernähren könne, diese also quasi eine heilige Frucht sei. Im Kontrast dazu stehen die Entwicklungen im ausklingenden deutschen Kaiserreich, die selbst in den peripheren Südsee-Kolonien zu spüren sind.
Christian Kracht, Imperium, Taschenbuch, Fischer Verlage 2013, 256 Seiten.
Sophie Passmann | Alte, weiße Männer. Ein Schlichtungsversuch
Sophie Passmann ist vieles: Radiomoderatorin, Fernseh- und Instagram-Persönlichkeit, SPD-Mitglied, Autorin. Für ihr erstes Buch hat sie sich auf die Suche nach dem vielbeschriebenen alten, weißen Mann gesucht und gefunden. Mit verschiedenen deutschen Persönlichkeiten, die auf die ein oder andere Art und Weise ins das Schema passen (u.a. vielleicht-Kanzler-in-spe Robert Habeck, den ehemaligen Bild-Chefredakteur Kai Diekmann oder Internet-Guru Sascha-Lobo) hat die Autorin sich zum Gespräch zusammengesetzt und versucht zu ergründen, was das denn für ein Wesen ist, dass da in großen Teilen die Geschicke der Gesellschaft (noch) bestimmt. Dem Leser öffnet sich dabei zusätzlich zur Gesprächsebene der stetige, stille Kommentar Passmanns selbst, die mit gewohntem Witz durch diese Welt aus grau melierten Frisuren und privilegierten Machtpositionen führt.
Sophie Passmann, Alte, weiße Männer. Ein Schlichtungsversuch, Taschenbuch, KiWi 2019, 288 Seiten.
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Walter Moers | Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär
Wohl jedes Kind kennt Käpt’n Blaubär und seinen vermeintlichen Seemannsgarn, der ausgedachter nicht klingen könnte. Das abenteuerliche Leben des blauen Bären – oder zumindest die Hälfte, denn Blaubären haben 27 Leben – hat dessen Schöpfer Walter Moers in „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ höchst unterhaltsam zu Papier gebracht. Ob sich der Held nun als Zwergpirat durchs Leben schlagen oder beim siebengehirnigen Prof. Dr. Abdul Nachtigaller in den Finsterbergen die Schulbank drücken muss, langweilig wird diese Erzählung an keiner Stelle. Wie Zuckerguss sind durch das Buch hinweg außerdem Moers‘ detailreiche Zeichnungen verteilt, sodass die eigene Fantasie gleich doppelt befeuert wird. „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ ist eine Erzählung für große und kleine Abenteurer und dient gleichzeitig als Einstieg in Walter Moers‘ ausuferndes Zamonien-Universum.
Walter Moers, Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär, Taschenbuch, Goldmann 2002, 704 Seiten.
Sarah Kuttner | Kurt
Der Verlust menschlichen Lebens, die Reaktion darauf und der Umgang damit sowie die Folgen für davon betroffene Beziehungen – es sind große Themen, an die Sarah Kuttner sich mit ihrem vierten Roman „Kurt“ heranwagt. Aber es sind auch Themen, die jeden Menschen früher oder später betreffen werden, wenn auch in extremer Form: Protagonistin Lena zieht mit ihrem Freund Kurt und dessen gleichnamigen Sohn in einem Haus im Berliner Umland zusammen. Als Idealbild der Patchwork-Familie steht das Glück dieser Dreierkonstellation am Anfang des Romans und währt nicht lange, denn der Sechsjährige stirbt bald bei einem Unfall auf dem Kinderspielplatz. Es beginnt der Versuch, mit der Trauer klarzukommen, sie zu überwinden und gleichzeitig das gemeinsame Leben zusammenzuhalten. Kuttners „Kurt“ ist kein leichtherziges und dennoch ein schreiberisch leichtfüßiges Buch, das nicht zuletzt von diesem Kontrast lebt.
Sarah Kuttner, Kurt, Gebunden, Fischer Verlage 2019, 240 Seiten.
Meir Shalev | Judiths Liebe
Die titelgebende Judith in Meir Shalevs Roman „Judiths Liebe“ ist tragisch und früh gestorben – zu früh, als dass ihr Sohn und Protagonist der Handlung, Sejde, sie richtig hätte kennenlernen können. Diese Aufgabe müssen drei Männer aus dem Dorf übernehmen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, von denen aber jeder Sejdes Vater sein könnte, so genau weiß das keiner. Sie alle eint aber die Liebe zur verstorben Judith, die sich bei allen dreien unterschiedlich äußert. Und so reiht sich Shalev nicht in die Meistererzählungen der einen, großen Liebe ein sondern ergründet liebevoll und unaufgeregt die vermeintlichen Banalitäten zwischenmenschlicher Beziehungen, auf die man immer erst zu spät achtet und die doch den lebenswichtigen Kitt in diesen Beziehungen ausmachen. Ein Buch, das mit jedem Seitenaufschlag Wärme ausströmt, ohne dabei in Kitsch abzudriften.
Meir Shalev, Judiths Liebe, Taschenbuch, Diogenes 1999, 400 Seiten.
Delphine de Vigan | Loyalitäten
Wenn sich der 12-jährige Sohn für das mentale Wohlergehen der geschiedenen Eltern verantwortlich sieht, liegt einiges im Argen. Im Falle Théos manifestiert sich diese Diskrepanz in verfrühtem Alkoholkonsum. Dass etwas nicht stimmt, fällt aber nur Lehrerin und Protagonistin Hélène auf, die bei den Eltern des Jungen jedoch kein Gehör findet. Lediglich Mathis, der beste Freund Théos, weiß um den heimlichen Konsum, möchte aber aus freundschaftlicher Treue nichts verraten. Delphine de Vigan erkundet in „Loyalitäten“ eine der vermeintlich hohen menschlichen Tugenden, eben die Loyalität und zeigt auf, wie diese zu problematischen Situationen und Beziehungen führen kann.
Delphine de Vigan, Loyalitäten, Gebunden, Dumont 2018, 176 Seiten.
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Wolfgang Herrndorf | Tschick
Maik Klingenberg ist mit seinen 14 Jahren der Außenseiter in seiner Klasse. Die Verhältnisse zuhause sind schwierig: die Mutter ist alkoholabhängig und regelmäßiger Gast in der Entzugsklinik, der gewaltsame Vater pflegt eine klischeehafte Affäre mit seiner Assistentin. Außerdem interessiert sich Maiks großer Schwarm, Tatjana Cosic, nicht für ihn und lädt ihn auch nicht zu ihrer Geburtstagsparty ein. Veränderung muss her und sie kommt in Form des neuen Mitschülers Andrej „Tschick“ Tschichatschow. Der schert sich scheinbar einen feuchten Kehricht um seinen sozialen Stand und sammelt Maik in den Sommerferien kurzerhand mit einem alten Lada ein, um gemeinsam in die Walachei zu fahren – auch wenn keiner von beiden weiß, wie man dort hinkommt. Wolfgang Herrndorf gelang mit „Tschick“ eine Verbindung aus Coming-of-Age-Story und Roadtrip, die an keiner Stelle unangenehm nach Sozialpädagogensprech, sondern immer authentisch und nahbar klingt. Der Stoff wurde 2016 von Fatih Akin verfilmt.
Wolfang Herrndorf, Tschick, Taschenbuch, Rowohlt 2012, 256 Seiten.
Deborah Feldman | Unorthodox
Inmitten der pulsierenden und modernen Großstadt New York lebt die ultra-orthodoxe jüdische Sekte der Satmarer. Sie legen die Gesetze und Gebote ihrer heiligen Schrift wortwörtlich aus, sodass am Sabbat nicht einmal Frauen ihre Kinder tragen oder jemand einen Krankenwagen rufen dürfte. In dieser Gemeinschaft wächst Deborah Feldman auf, lebt in Fremdbestimmung, hat so gut wie keinen Kontakt mit der Gesellschaft außerhalb der Sekte und bricht schließlich mit ihrer eigenen Familie, um diesem einengenden Umfeld zu entkommen. In ihrem autobiografischen Bericht gewährt die mittlerweile in Berlin lebende Feldman einen Einblick in eine Parallelgesellschaft, die vielen im 21. Jahrhundert undenkbar erscheinen dürfte, aber dennoch mitten in den USA stattfindet.
Deborah Feldman, Unorthodox, Taschenbuch, btb Verlag 2017, 384 Seiten.
Stephan Orth | Couchsurfing in China
Die Volksrepublik China hat sich im 21. Jahrhundert in einem rasanten Aufstieg zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht des Planeten aufgeschwungen – und diese Entwicklung setzt sich fort. Dennoch ist uns der Riese in Fernost häufig fremd, das Wissen um chinesische Kultur begrenzt sich hierzulande immer noch häufig auf veraltete Kung-Fu-Filme und nicht immer ganz authentische chinesische Küche. Stephan Orth hat sich ins Reich der Mitte begeben, um die Kultur und die Menschen dort zu ergründen – und zwar mitten in ihren Häusern und Wohnungen. Denn der Reisejournalist (u.a. Spiegel Online) residierte auf seiner Tour von Macau bis Xinjiang nicht in irgendwelchen Hotels, sondern war als Couchsurfer unterwegs. Seine Erlebnisse, Begegnungen und Konfrontationen fasst er in „Couchsurfing in China“ kompakt und unterhaltsam zusammen und schafft es so, ein in vielerlei Hinsicht unbekanntes Land erfahrbar zu machen.
Stephan Orth, Couchsurfing in China, Broschiert, Piper 2019, 256 Seiten.
Marc-Uwe Kling | QualityLand
Nachdem Marc-Uwe Kling in seinen Känguru-Werken die unmittelbare Gesellschaftskritik abgefrühstückt hat, wendet sich der Autor, Kabarettist und Kleinkünstler der nicht allzu fernen Zukunft zu. In „QualityLand“ beschreibt er gewohnt trocken ein Deutschland, das nun QualityLand heißt, als wirtschaftsoptimiertes und durchgetaktetes Klassensystem, in dem Konzerne die öffentliche Ordnung bestimmen. Protagonist ist die arme Sau Peter Arbeitsloser, der sich eines Tages mit einer Bestellung des beliebten Online-Händlers „The Shop“ konfrontiert sieht, die er gar nicht will – obwohl „The Shop“ immer schon vor dem Kunden weiß, was der denn bestellen will. Ein kohlhaas’scher Konflikt ist vorprogrammiert.
Marc-Uwe Kling, QualityLand, Gebunden, Ullstein 2017, 384 Seiten.
Thomas Hoeps & Jac Toes | Die Cannabis-Connection
Im Krimi-Genre sind der Mönchengladbacher Autor Thomas Hoeps und der Niederländer Jac. Toes zu Hause. Nun hat das Autorenduo mit „Die Cannabis-Connection“ seinen ersten Thriller vorgelegt. Der kreist um Dr. Marcel Kamrath, der sich auf dem Sprung zum Ministerposten befindet. Plötzlich taucht sein längst totgeglaubter Jugendfreund aus dem Nichts auf. Einst war Kamrath nämlich mitten im Amsterdamer Hausbesetzermilieu unterwegs und Teil des Duos Knabbel und Babbel. Während der Aufstrebende sich für die Legalisierung von Cannabis starkmacht, nehmen die Verflechtungen zu, es geht ums eiskalte „Wietbusiness“ und Flashbacks versetzen Protagonisten und Leser in die Achtziger. Möchte man nicht mehr weglegen – mitreißend und spannend!
Thomas Hoeps & Jac Toes, Die Cannabis-Connection, Broschiert, Unionsverlag 2019, 352 Seiten.
Michael Wagner | Im Grab ist noch ein Eckchen frei
Don’t judge a book by its cover: In Michael Wagners zweitem Sauerland-Krimi geht es nämlich mitnichten um einen Schweinemord auf dem Bauernhof, sondern um einen mysteriösen Vorfall nach einem Klassentreffen in einer Lüdenscheider Kneipe. Gleich mehrere von Theos Schulkameraden sind nach dem Abend tödlich verunglückt, das kann kein Zufall sein! Der Frührentner stellt, gemeinsam mit der pensionierten Rektorin Lieselotte Larisch und Studentin Sabine Nachforschungen an. Dabei schreckt das skurrile Ermittlertrio auch nicht vor trockenem Napfkuchen, lauwarmem Filterkaffee oder wilden Verfolgungsjagden auf Bonanza-Rädern zurück. Eine Zeitreise in den Sommer 1974 zwischen Herrengedecken, Krone-Zigaretten und Fußball WM – einfach kultig!
Michael Wagner, Im Grab ist noch ein Eckchen frei, Taschenbuch, Bastei Lübbe 2019, 239 Seiten.
Marina Jenkner | Die Unwillkommenen
Als Protagonistin Betty zum ersten Mal die syrischen Freunde zum Essen einlädt, duftet es nach Waffeln. Genau diese Heimeligkeit versprüht der Roman der Wuppertaler Autorin Marina Jenkner. Spielerisch schlägt sie den Bogen von 2015 bis in die Vergangenheit ihrer beiden Großmütter. Gleichzeitig zeigt die Geschichte von Betty, ihrer Familie und den Ibrahims, wie sensibel und schwierig die kleinsten Themen sein können – von der Kleiderfarbe bis hin zur Haarlänge. Herauskommt eine länderübergreifende, detailreiche, fesselnde Familiensaga.
Marina Jenkner, Die Unwillkommenen, Gebunden, Größenwahn Verlag 2019, 258 Seiten.
Karosh Taha | Beschreibung einer Krabbenwanderung
In Karosh Tahas „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ versucht die 22-jährige Sanaa der Enge ihrer kurdischen Familie zu entkommen. Sie studiert, hat einen Freund und einen Liebhaber für zwischendurch. Doch erfahren darf das in der Hochhaussiedlung am deutschen Stadtrand niemand. Vater Nasser hält die Familie mit ständig wechselnden Jobs über Wasser, seine Arme sind davon weiß und brüchig geworden wie Knoblauchhaut. Die Mutter Asija verbringt die Tage apathisch im Bett und steht nachts weinend auf dem Balkon. Sanaa fühlt sich einerseits verpflichtet, sich um die depressive Mutter zu kümmern und hat andererseits Angst davor, so zu enden wie die Hochhausfrauen, deren Freiheit nur bis zum nächsten Supermarkt reicht. In der Geschichte verwebt Karosh Taha Kindheitserinnerungen, Gegenwart und Träume Sanaas miteinander. Vergleichbar mit Marcel Prousts Madeleine-Episode führen auch bei Sanaa bestimmte Gegenstände und Begebenheiten dazu, dass sie in Erinnerungen abdriftet. Ein nasses Kopfkissen lässt sie zum Beispiel an die weichen Brüste und nassen Zöpfe ihrer Großmutter im Irak denken. Durch die sich wiederholenden Satzstrukturen taucht man als Leser kopfüber in diese assoziativen Erinnerungs-Episoden ein und landet nach ein paar Seiten unvermittelt wieder in der Gegenwart der Figuren. Ein Debüt mit Sogwirkung!
Karosh Taha, Beschreibung einer Krabbenwanderung, Taschenbuch, DuMont 2019, 254 Seiten.