Alles ist möglich: Interview mit Manuel Möglich über „Wild Germany“

Themen im "Wild Germany"-Podcast: BIID, Incels & Absolute Beginner, Aussteigerinnen der rechtsextremen Szene, Missbrauch in Pfadfinder-Camps und mehr.
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Anfang 2011 lief die erste Folge „Wild Germany“ auf ZDFneo. Eine Dokureihe, die sich mit den unterschiedlichsten sozialen Gruppen Deutschlands befasste. Gruppen, die von den meisten gar nicht wahrgenommen oder eher kritisch kommentiert werden. Es ging um Schlagerfans, Fußballultras, Pornodarsteller:innen genauso wie um Menschen, die sich absichtlich mit HIV infizieren wollen, um Pädophilie oder Satanismus. Manuel Möglich führte als Reporter durchs Land und sprach sehr ehrlich mit Leuten dieser Gruppen. 2013 war vorerst Schluss. Bis heute werden sämtliche Staffeln regelmäßig auf Portalen gestreamt. Zum Zehnjährigen kehrt das Format mit Kultstatus zurück – allerdings als Podcast auf Spotify. Gerade erschien die letzte Folge der ersten Rutsche, eventuell kommen weitere. Christopher Filipecki sprach mit Manuel Möglich über das neue Konzept, Toleranz in der heutigen Gesellschaft und mehr.

„Ich bin Manuel Möglich, Journalist, Anfang 40 und lebe in Berlin.“ Foto: Felix Krüger
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„Mittlerweile war eine nostalgische Gefühlsebene bei mir erreicht.“

In diesen schwierigen Zeiten ein Comeback von „Wild Germany“ – Zufall, Manuel?
Nee, Zufall ist das nicht, das ist schon geplant. Spotify und ich hatten schon etwas länger miteinander Kontakt und haben häufiger darüber nachgedacht, ein Format wie dieses jetzt zu machen. „Wild Germany“ ist nun zehn Jahre alt und mittlerweile war eine nostalgische Gefühlsebene bei mir erreicht, sodass ich dachte, dass man es dann auch so nennen könnte. Am Ende liegt es ja auch ein wenig an meiner Person, dass ich mich nicht komplett davon lösen kann, auch wenn ich seit längerem schon andere Projekte mache.

Wie kam es denn dann dazu, dass es jetzt fortgesetzt wird?
Es gab immer wieder Leute, die gefragt haben, ob es irgendwie weitergeht. Irgendwann war das für mich aber durch. Man kann, meiner Meinung nach, nicht etwas reproduzieren, was schon eine gewisse Zeit zurückliegt. Filme mache ich trotzdem weiter für verschiedene Plattformen, aber stattdessen kam nun die Idee im journalistischen Podcast-Bereich auf.
Die Recherchen für die Themen hatte ich sowieso, bzw. hätte sie sonst vielleicht für andere Projekte verwendet. Umgekehrt könnte ich manche Themen, die ich nun für den Podcast mache, gar nicht drehen, weil man an den Orten nicht drehen darf – zum Beispiel in der JVA, in der ich für eine Episode vor Kurzem war – oder die Leute nicht vor eine Kamera treten würden.
Somit war es eine logische Konsequenz, einen journalistischen Podcast zu machen, da es in diesem Bereich gar nicht viel im deutschsprachigen Raum gab, als wir vor anderthalb Jahren das erste Mal über die Idee gesprochen haben. Zusätzlich komme ich – was viele nicht wissen – auch vom Radio, heißt, ich kenne diese Aufnahmeform, einfach mit einem Gerät unterwegs zu sein. Es ist also ein bisschen zurück zu meinen Wurzeln, ohne großes Team allein unterwegs zu sein, was auch viele Vorteile hat.

„Ich möchte beide Medien nicht missen.“

Wie ist die Idee damals überhaupt entstanden?
Ich bin in den USA auf das Vice-Magazin aufmerksam geworden, was es ein paar Jahre später auch in Deutschland gab. Ich war sehr von deren Inhalten angetan und habe anfangs ein paar Artikel dafür geschrieben. Vice und ZDFneo standen in Kontakt und wollten was zusammen machen. In dem Prozess der Entwicklung bin ich irgendwann dazu gekommen und als Team haben wir die erste Staffel entwickelt. Erst waren nur vier Folgen geplant, aber das lief dann so gut, dass wir auch für den Deutschen Fernsehpreis nominiert wurden.
Im Laufe der Zeit sind wir auch besser geworden. Am Anfang hatte keiner von uns Fernseherfahrung und es war mehr ein Ding, bei dem man geguckt hat, wie es funktionieren wird. Heute würde ich – weil ich‘s eben nun besser weiß – viele Sachen anders machen als damals, aber genau das machte die Reportagen auch authentisch, weil es sich zu dem Zeitpunkt richtig anfühlte.
Eigentlich hätten wir nach den vier Staffeln noch eine machen können, aber ich fand die engen Zeitbedingungen und auch die Erwartungshaltung, noch eine Schippe draufzulegen, nicht passend. Deswegen haben wir es an dem Punkt, an dem die Leute es richtig gut fanden, sein gelassen. Ich finde aber einen Podcast auch nicht besser als eine Doku, nur anders. Ich möchte beide Medien nicht missen.

Du hast nun den Vergleich zwischen Fernsehreportage und Podcast – worin siehst du Vor- und Nachteile?
Zunächst einmal hat sich in zehn Jahren der Medienkonsum verändert. Durch das Netz gelangen Leute ganz anders an Themen. Heute lockt man viele nicht mehr so leicht hinter dem Ofen hervor. Das macht es schwerer und gleichzeitig besser. Ich finde, dass ich heute bessere Geschichten erzählen kann, auch wenn sie vielleicht weniger krass sind. Der Aufwand bei einem Podcast ist natürlich viel, viel kleiner als bei einer Doku. Ich habe einen Rekorder und zwei Funkstrecken, brauche keine Drehgenehmigung und kann einfach los.
Dadurch, dass ich mit dem Equipment fast unsichtbar bin, entsteht auch eine andere Vertrautheit in den Gesprächen. Sie werden länger und tiefer als vor einer Kamera. Dazu gibt es keine klassische Begrenzung. Zwar pendeln sich die Folgen zwischen 40 und 50 Minuten ein, aber im TV waren es immer 28 Minuten und 30 Sekunden mit einer Abweichung von maximal 15 Sekunden.

Manuel schreckt vor extremeren Themen nicht zurück, sondern geht ihnen empathisch auf den Grund. Foto: Felix Krüger

„So richtige Grenzen gibt es für mich nicht.“

Suchst du dir die Themen selbst aus?
Ja! Natürlich spreche ich mit dem Team ab, was die davon halten, aber eigentlich habe ich Narrenfreiheit. Ich gucke, dass innerhalb einer Staffel die Themen unterschiedlich genug sind, bin aber auch immer offen für Impulse von außen. Inspiration kommt durch Filme, Lesen, Leben, Freunde, Kolleginnen. Trotzdem brauche ich Bock und einen Bezug zur Thematik, eine vorgegebene Agenda würde da wahrscheinlich kein so gutes Ergebnis erbringen.
Mir ist außerdem wichtig, dass es auch Themen sind, bei denen man möglichst etwas Neues ergänzen kann und wozu nicht schon alles mehrfach erzählt wurde. In der Folge zum Ausstieg aus der rechten Szene geht es deswegen auch um Frauen, was häufig wenig beleuchtet wird.

Schließt du etwas generell aus?
Eigentlich nicht. Es gab damals die Idee, eine Folge über Sterbehilfe zu machen, bei der ich am Ende an dem Grab stehe von der Person, die ich über die Doku begleitet hätte. Ich wollte damals niemanden beim Sterben begleiten, würde es heute aber wahrscheinlich machen, weil das Thema super aktuell ist und Veränderungen passieren. So richtige Grenzen gibt es für mich nicht. Die Frage ist eben immer, wie man es erzählt.
Die Themen sind oft extrem bzw. außergewöhnlich. Bist du selbst auch so oder ist es einfach Neugier?
Ich würde mich selbst nicht als extreme Person beschreiben, auch nicht die Protagonisten. Ich führe eigentlich ein Leben wie viele, habe aber eine Grundneugier. Selbst bei abseitigen Themen wie BIID (Anm. d. Red.: Body Integrity Identity Disorder beschreibt den krankhaften Wunsch, eine körperliche Behinderung zu erlangen) könnten in der Gesellschaft Diskussionen aufkommen, sobald es nächstes Jahr theoretisch erlaubt sein könnte, dass Menschen sich ein gesundes Bein in Deutschland amputieren lassen dürfen. Solche Diskussionen sagen ganz viel über unser Miteinander und unser Land aus, und das macht es dann für mich reizvoll. Den Brückenschlag finde ich schön – es klingt erstmal so, als ob so etwas nur drei Leute beschäftigt, sobald aber gewisse Voraussetzungen gegeben sind, ist es dann nicht mehr nischig, sondern betrifft uns irgendwie alle.

„Wenn Menschen etwas tun, was ich persönlich nicht verstehen kann, warum sollte ich das bewerten?“

Hat „Wild Germany“ dich oder dein Denken nachhaltig verändert?
Ich weiß nicht, ob es mich persönlich verändert hat, aber es hat meinen Blick in vielen Punkten geschärft. Besonders hat es meine Akzeptanz und Toleranz auf ein anderes Level gebracht. An gewisse Dinge habe ich mich gewöhnt bzw. hauen sie mich nicht mehr so leicht aus der Kurve. Die grundsätzliche Frage ist: Wenn Menschen etwas tun, was ich persönlich nicht verstehen kann, warum sollte ich das bewerten? Ich treffe immer wieder Leute, die sich für unfassbar tolerant und offen halten, aber es eigentlich nicht sind, weil eine gewisse Sichtweise da ist. Sobald jemand abweicht, wird eben doch verurteilt, weil es ins eigene Muster nicht passt. „Wild Germany“ hat mich ganz gut darin geschult, dass wenn zwei Erwachsene Dinge tun, die ich nicht verstehe, sie das doch einfach machen sollen, solange das im freiwilligen Dasein passiert und es mich nicht einschränkt. Aber Mitleid habe ich beispielsweise mit meinen Gesprächspartnern nie. Das wäre wahrscheinlich auch schwierig, weil eine Verschiebung zwischen mir als Journalist und den Protagonisten passieren würde, aber ich habe zumindest für die Situation derjenigen bis zu einem gewissen Grad Empathie übrig und kann mich da hineinversetzen.

Denkst du, dass Deutsche mittlerweile einen besseren Zugang und mehr Verständnis für Themen haben, die sie selbst nicht betreffen?
Wenn es hart auf hart kommt, glaube ich, hat sich da gar nichts verändert in den letzten zehn Jahren. Es ist zwar en vogue, eine Regenbogenfahne in sein Profil zu packen und zu sagen „Alles easy“, aber Stichwort „Pädophilie“: Da hat sich gar nichts getan. Es ist immer noch das gleiche Unverständnis, der gleiche Hass und die gleiche Abneigung, auch wenn in den Folgen immer wieder gesagt wird, dass kein Verständnis für Menschen, die Kinder missbrauchen, geschafft werden darf, sondern lediglich für die Neigung, die sie sich selbst nicht ausgesucht haben, sondern die einfach so ist. Sobald es um so heikle Themen geht, bin ich leider nicht der Überzeugung, dass sich etwas verbessert hat. Das hat man auch bei der sogenannten Flüchtlingswelle stark gesehen. Und wenn es um Rechte für Schwule und Lesben geht, sind Großstädte wie Berlin oder das Ruhrgebiet nicht gleichzeitig ganz Deutschland. Geht man aufs Land, ist es an vielen Orten immer noch schwierig.

Zum Schluss: Wünsch dir etwas von dem „Wilden Deutschland“!
Wenn ich Land und Leute beobachte, besonders in den sozialen Medien, würde ich mir wünschen, dass man mehr in eine Kommunikation kommt. Dass man überhaupt bereit ist, mit der anderen Seite zu reden und hört, um was es geht. Dabei geht es mir nicht darum, dass jeder alles sagen darf – natürlich nur, solange deren Denken auf dem Boden der Demokratie beruht –, aber ich finde, dass es keine Streitkultur mehr gibt. Sobald man sich nicht grün ist, ignoriert man die andere Person. Mir fehlt Reibung.

„Wild Germany“ läuft seit Juni als Podcast exklusiv auf Spotify. Foto: Spotify
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