Von der Unmöglichkeit des Sinns: „Die kahle Sängerin“ in Bochum

Johan Simons inszeniert "Die kahle Sängerin" am Bochumer Schauspielhaus. Vorne v.l. Marius Huth, Jele Brückner, hinten v.l. Stefan Hunstein, Stacyian Jackson, Konstantin Bühler. Foto: Birgit Hupfeld
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„Absurd“ ist aktuell so einiges. So mancher Zeitgenosse kann nur den Kopf schütteln über Aktionen, Proteste, Social Media und den allgemeinen Zustand der Gesellschaft. Da ist mitunter der Wunsch nach Zerstreuung und einer Auszeit von der Realität groß. Eine wesentlich angenehmere Beschäftigung mit der Absurdität der Welt verspricht das absurde Theater, dass in den 50er Jahren vor allem in Frankreich versuchte, die Orientierungslosigkeit der Menschen und die Sinnlosigkeit des Seins im Allgemeinen deutlich zu machen.

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Johan Simons inszeniert „Die kahle Sängerin“

Johan Simons inszeniert am Bochumer Schauspielhaus Eugene Ionescos „Die kahle Sängerin“, vom Autor selbst als „Anti-Stück“ bezeichnet. Ionesco wollte mit seinem ersten Theaterstück eine „Tragödie der Sprache“ schreiben, die Sinnlosigkeit nicht nur von Smalltalk in den Fokus rücken. Nicht nur in Frankreich wurde aber entgegen Ionescos Erwartungen sein Werk zu einer sehr beliebten Komödie umgedeutet.

Die karge Bühne lässt Platz für eigene Gedanken. Vorne Marius Huth, Mitte Stacyian Jackson, hinten Jele Brückner, Stefan Hunstein. Foto: Birgit Hupfeld

Das Bühnenbild lässt Assoziationen zu. Ist es ein steril aussehendes 50er-Jahre Klinikzimmer? Der Vorhof zur Hölle? Oder – ganz aktuell – eine karge Notunterkunft für ankommende Flüchtlinge? Sieben metallene Bettgestelle, gruppiert zu vier Liegeplätzen, ein Bett mit Matratze und grün bezogener Bettwäsche. Hinter jeder Bettgruppe ein großer Bildschirm. Moderne LED-Röhren, die an die altmodischen Neonröhren erinnern. Weißer Boden.

Tragische Komödie des Absurden

Im Bochum nimmt Regisseur und Intendant Simons das Stück ernst. Das heißt beileibe nicht, dass es nicht lustig wäre. Aber er nimmt die ausgestellte Sinnlosigkeit ernst, die Hilflosigkeit und die phrasenhaften Versuche seiner Figuren, Gemeinschaft herzustellen. Die Zuschauer:innen sehen, wie die Figuren mit sich und den anderen kämpfen, sprachlich und körperlich. Dass Smalltalk nicht funktioniert, verwundert nicht – aber selbst Eheleute können nur noch Sprachhülsen austauschen, die keine echten Inhalte transportieren. Das ist für das Publikum lustig anzusehen und provoziert Lacher. Zurück bleibt aber ein schaler Geschmack, das Lachen bleibt manch einem im Halse stecken. Das durchgängig sehr gute Ensemble des Schauspielhauses Bochum gibt bei der Premiere alles, macht die Qualen der Figuren transparent und nachvollziehbar. Die Situationskomik leidet nicht darunter, sondern bildet einen kräftigen Hintergrund, vor dem sich die tatsächliche „Tragödie der Sprache“ umso deutlicher abhebt.

Über diese Sprachtragödie hinaus entdeckt das Publikum in Bochum auch die Tragödie der Gesellschaft, die sehr modern ist: Ohne Orientierung, ohne Werte und ohne erlebte Gemeinschaft ist das Leben selbst sinnfrei. Das wird vor allem deutlich, wenn der Diener (Konstantin Bühler) in der Feuerwehrfrau (ernsthaft-melancholischer Gegenentwurf zur überdrehten Gesellschaft: Danai Chatzipetrou) seine alte Liebe wiederentdeckt und beide von ihren echten Emotionen überrannt werden.

Warme Menschlichkeit in der kalten Welt. Danai Chatzipetrou, Konstantin Bühler. Hinten Jele Brückner. Foto Birgit Hupfeld

Plötzlich entsteht auf der Bühne ein warmer Moment, den die Marionettenfiguren Smith (Stacyian Jackson als starke Mrs. Smith und Stefan Hunstein als eher unterwürfiger Mr. Smith) und Martin (Jele Brückner und  Marius Huth als gleichberechtigtes Ehepaar Martin) nur aus der Ferne argwöhnisch betrachten können.

Am Ende: v.l. Stacyian Jackson, Stefan Hunstein, Marius Huth
Jele Brückner, Foto: Birgit Hupfeld

Bunt, kurzweilig, gelungen

Im Gegensatz zu der kargen, weiß-schwarzen Bühne (Sascha Kühne, Johan Simons) sind die Kostüme (Britta Brodda, Sophia Deimel) quietschbunt. Die farbenfrohe Kleidung gibt den Augen Orientierung, wenn schon der Geist vergeblich nach Sinn im Gesprochenen sucht. Einzig die Feuerwehrfrau kann es sich leisten, in unauffälliger Uniform aufzutreten, da sie wie ein Ruhepol im Geschehen wirkt und die zu diesem Zeitpunkt eskalierende Gesellschaft mit öden Anekdoten zu unterhalten versucht.

Johan Simons inszeniert einen kurzweiligen, stimmigen und entlarvenden Abend. Das Ensemble spielt in diesem Lehrstück des absurden Theaters überzeugend und ernsthaft , Zweifel an der inneren Logik des Stückes lassen sie nicht aufkommen. Das Premierenpublikum ist 80 Minuten Teil der Konversationskomödie, dank der Leistung der Schauspieler:innen und der Regie gehen die Zuschauer:innen in Ionescos Kosmos nicht verloren. Am Schluss gibt es berechtigt langen und anhaltenden Applaus für das gesamte Team.

Die kahle Sängerin von Eugene Ionesco, Schauspielhaus Bochum. Mrs. Smith Stacyian Jackson, Mr. Smith Stefan Hunstein, Mrs. Martin Jele Brückner, Mr. Martin Marius Huth, Feuerwehrfrau Danai Chatzipetrou, Diener Konstantin Bühler.
Regie Johan Simons, Bühne Sascha Kühne, Johan Simons, Kostüm Britta Brodda, Sophia Deimel, Licht Bernd Felder, Dramaturgie Leonie Adam, Regieassistenz Christian Feras Kaddoura, Bühnenbildassistenz Max Manderbach, Kostümassistenz Lina Gausmann, Soufflage Isabell Weiland, Sprachcoaching Roswitha Dierck, Inspizienz Nora Köhler, Regiehospitanz Pepe Vogel, Kostümhospitanz Chiara Stresemann, Dramaturgiehospitanz Tristan Wulff

Weitere Aufführungen

  • Sonntag, 05. Mai, 17.00 Uhr (+ Einführung 16.30 Uhr)
  • Samstag, 11. Mai, 19.30 Uhr
  • Donnerstag, 30. Mai, 19.00 Uhr (10 €-Tag, + Einführung 18.30 Uhr)
  • Mittwoch, 12. Juni, 19.30 Uhr (+ Einführung 19.00 Uhr)
  • Sonntag, 30. Juni, 19.00 Uhr
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