Theater- & Kunstfestivals 2023: Der große Sommer der Künste

Stéphanie Lagarde, Minimal Sway While Starting My Way Up, 2021; zu sehen auf der Videonale19 in Bonn. Foto: Stephanie Lagarde
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Neue Dramatik, beste Kinder- und Jugendstücke, internationale Gastspiele, zeitgenössische Choreografien: Im Mai und Juni locken zwei Festivals und zwei Wettbewerbe die Menschen in die Theater. Parallel dazu stehen aber auch Kunstfreund:innen ergiebige Monate bevor. Gleich drei innovative Festivals laden zu kultivierten Happenings ein. Ariane Schön besucht für euch die Bretter, die die Welt bedeuten, während Berit Kriegs der Kunstszene einen Besuch abstattet.

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Klassiker der Szene: Die Ruhrfestspiele Recklinghausen

Tanzproduktion „Manifesto“ bei den Ruhrfestpielen. Foto: Roy Van Der Vegt

Wie jedes Jahr gehört der 1.5. den Ruhrfestspielen Recklinghausen, auf zum Volksfest auf der grünen Wiese rund ums Festspielhaus. Mit „Rage und Respekt“ übertitelt Intendant Olaf Kröck das Programm, mit dem er auf weltpolitische Krisen reagiert. Lesungen, Tanz, Theater; Aufführungen aus aller Welt, Kabarett, Musik- und Zirkusformate sowie einige Prominente kündigen sich an: Isabella Rossellini, Ulrich Matthes, Katja Riemann, Wilfried Schmickler, Wladimir Kaminer. Den Anfang macht am 3.5. eine Romanadaption der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Regisseur Simon McBurney und das britische Theaterkollektiv Complicité präsentieren mit „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ einen bildgewaltigen Umweltkrimi, der in den polnischen Bergen spielt.

Von Europa geht’s nach Asien mit einer außergewöhnlichen Produktion: „Pah-Lak“ des indischen Dramatikers Abhishek Majumdar setzt sich mit der Unterdrückung Tibets durch China auseinander. Tibetische Darsteller:innen bringen ihren Kampf um Kultur und Identität auf die Bühne – in tibetischer Sprache mit deutschen Untertiteln. Tief in die fantastische Literatur entführt „Der Wij“, eine Zusammenarbeit zwischen einem russischen Regisseur, einem ukrainischen Autor und dem internationalen Ensemble. Grundlage ist eine Volkssage von Nikolai Gogol, die der im deutschen Exil lebende Kirill Serebrennikov inszeniert. Eine lautstarke Choreografie bringt die australische Tanzkompanie von Stephanie Lake mit nach Recklinghausen.

Im vergangenen Jahr bereits stürmisch gefeiert, besteht die Performance „Manifesto“ aus neun Tänzer:innen und neun Schlagzeuger:innen. Lebensfreude zwischen marschierender Parade und ekstatischem Ausbruch. Ungewöhnliche Performances finden Besucher in der Sparte des Neuen Zirkus. In „PLI“ geht es um die Visualisierung von Papier unterschiedlicher Beschaffenheit. Die israelische Artistin Inbal Ben Haim baumelt sechs Meter über dem Boden an einem reißenden Papierfaden. Mehr familientaugliche Aufführungen gibt es bei den Kinder- und Jugendstücken. Die belgische Gruppe „Be Flat“ unterteilt in „Double You“ das Publikum auf zwei gegenüberliegende Seiten und spielt so mit den Erwartungen der Zuschauenden. In dem „Märchen von der kleinen Meerjungfrau“ frei nach Hans Christian Andersen deutet Autor Roland Schimmelpfennig die Ursprungsgeschichte um: Er schickt seine drei Darsteller:innen auf eine Reise über das Meer. Die Inszenierung vom Jungen Theater Heidelberg ist zunächst im Recklinghäuser Festspielzelt, anschließend bei den Mühlheimer Stücketagen zu Gast.
Ruhrfestspiele Recklinghausen: 1.5.-11.6.

Ein Regen aus Preisen: Die 48. Mülheimer Theatertage

Golda Bartons „Sistas!“ buhlt um den Mülheimer Dramatikerpreis 23. Foto: Kamil Janus

Im Wettbewerb der 48. Mülheimer Theatertage vom 13.5.-3.6. hoffen 13 Autor:innen auf Ehrungen. Marc Becker, Fabienne Dür, Anah Filou, Ulrich Hub und Roland Schimmelpfennig sind für den KinderStückePreis 2023 nominiert. Im Kampf um den Dramatikerpreis des Jahres finden sich einige Wiederholungstäter:innen. Elfriede Jelinek ist die ungeschlagene Dauerabonnentin im Wettbewerb, bereits viermal hat sie gewonnen. Dieses Mal ist sie mit einem sehr persönlichen Werk in Mülheim: „Angabe der Person“ ist eine Lebensbilanz, aber auch eine Abrechnung mit der Finanzwelt sowie der NS-Vergangenheit; zu sehen ist das Werk in einer szenischen Darstellung vom Deutschen Theater Berlin. Zwei Neulinge sind der 5-köpfigen Auswahljury bei der Sichtung von rund 200 deutschsprachigen Uraufführungen aufgefallen: Golda Barton ist mit „Sistas!“ dabei, einer poppigen Version der Volksbühne am Rosa-Lusemburg-Platz frei nach Anton Tschechows „Drei Schwestern“. Berliner Wohngemeinschaft statt Moskauer Herrenhaus – die rasanten Dialoge drehen sich um Identität, Alltagsrassismus und Kulturunterschiede. Eine symbiotische Beziehung zwischen Tier und Mensch serviert Caren Jeß, die als Debütantin im Wettbewerb um den mit 15.000 Euro dotierten Dramatikerpreis steht. Im Monolog „Die Katze Eleonore“ beschreibt sie die Metamorphose einer Immobilienmaklerin in einen Stubentiger. Klingt skurril, aber nicht ohne Grund sind Katzenvideos der Hit in sozialen Medien. Die legendäre Jurydebatte am 3.6. beendet die Theatertage und ist auch per Livestream mit zu verfolgen.
48. Mülheimer Theatertage: 13.5.-3.6., Ringlokschuppen, Stadthalle, Theater an der Ruhr, Mülheim

Mal hier, mal dort: Festival Tanz NRW 23

Tanzproduktion „Bilderschlachten“ von Stephanie Thiersch. Foto: Martin Rottenkolber

Das „Festival Tanz NRW 23“ ist über neun Städte verteilt und lädt zu 22 Bühnenperformances sowie 26 virtuellen Aufführungen ein, die aus rund 260 Bewerbungen herausgefischt worden sind. Die digitale Onlineplattform zeigt Tanzfilme und Dokumentationen, Portraits und Livestreams von ausgewählten Inszenierungen. In Stephanie Thierschs Film „Insular Bodies“ geht es um Nacktheit und das Verschmelzen des menschlichen Körpers mit der Natur, in ihrer Performance „Bilderschlachten“ stellen sich acht Performer:innen dem Ende der Welt.

Unter dem Programmpunkt „Sprungbrett – Tanzrecherche NRW“ erhalten zwei Nachwuchskollektive einen Experimentierraum. Das Hiraeth Kollektiv ist geballte Frauenpower aus dem Iran und aus Afghanistan und besteht aus den Performerinnen Yasmin Fahbod, Mina Khani, Zahra Mousawy und Shirin Namazi. Sie beschäftigen sich mit der Bewegungssprache des weiblich-muslimischen Körpers und den Auswirkungen des Lebens fern von ihrer Heimat. Erste Ergebnisse präsentieren sie an fünf verschiedenen Orten. Die Choreografen Julio Cesar Iglesias Ungo & Hans van den Broek erwecken in dem Albtraum-Szenario „Bladerunner!“ die Androiden zum Leben: „Wir sind gekommen, um zu bleiben…“! Eröffnet wird am 4.5. im Mülheimer Ringlokschuppen mit „RUNthrough III“ von „CocoonDance“, serbische Folklore und Schweizer Rap treffen auf inklusives Theater.
Tanz NRW, 23. Festival Zeitgenössischer Tanz: 4.5.-14.5., verschiedene Theater in Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Krefeld, Mülheim, Münster, Viersen, Wuppertal

Für Jung und Junggebliebene: Theaterfestival Westwind in Bonn

Das Junge Schauspielhaus Düsseldorf zeigt „Das Leben macht mir keine Angst“. Foto: David Baltzer

Das Theaterfestival „Westwind“ präsentiert die zehn besten Inszenierungen für ein junges Publikum, die um den ersten Platz im Wettbewerb buhlen. Neben literarischen Stückvorlagen wie „Nathan der Weise“ vom Schauspiel Essen und „Alice im Wunderland“ als Performancetheater der Münsteraner Gruppe Fetter Fisch finden sich im Programm überwiegend Eigenproduktionen. Krisenzeiten produzieren Ängste, aber es scheint, als wenn die junge Theaterszene dem etwas entgegen setzen will. So befassen sich zwei Performerinnen vom Düsseldorfer FFT in „dÄmonen“ mit ihren dunklen Seiten, ohne diesen ohnmächtig zu erliegen.

Auch „Das Leben macht mir keine Angst“ vom Jungen Schauspielhaus Düsseldorf spielt mit dem Grusel und soll vor allem Mut machen. „Der geheimnisvolle Fremde“ nach dem gleichnamigen Roman von Mark Twain dreht sich um Satan, der auf die Erde kommt, um Unruhe zu stiften. Die Junge Bühne Bochum findet in dem düsteren Stoff viel Humor und überzeugt mit Gesang, Videobildern und Choreografien. Außerhalb des Wettbewerbs locken internationale Gastspiele sowie das öffentliche Happening „Theaterparade“ zur Eröffnung an der Bonner Oper (11.6., 14 Uhr).
Westwind Festival – 39. Theatertreffen für junges Publikum NRW: 11.-17.6., verschiedene Spielorte in Bonn

Video x Kunst: Videonale in Bonn

Poyen Wang, Endearing Insanity Foto: Poyen Wang

Um Video und zeitbasierte Kunstformen geht es bei der 19. Ausgabe der Videonale in Bonn. Noch bis zum 14.5. zeigt das Kunstmuseum Bonn eine Ausstellung mit 27 Videokunstwerken von internationalen Künstler:innen, die das Machtgefälle zwischen dem globalen Norden und Süden untersuchen.
Das Publikum ist eingeladen, sich intensiv mit den Werken zu beschäftigen: Am Ort der Ruhe können sie die Bilderflut auf sich wirken lassen; Raum für Dialog bietet der Videonale-Circus.
Eine thematische Klammer bildet das Festivalprogramm, das parallel im Museum und an besonderen Locations in der Stadt ausgetragen wird.
In Talks, Matinéen und Workshops können gesellschaftlich wichtige Fragen diskutiert werden. So gibt es im Theater im Ballsaal am 6.5. unter dem Titel „Die Hörposaune“ eine visuelle Installation mit Gespräch. Preisträgerin der diesjährigen Videonale ist die Niederländerin Eliane Ester Boths, die für ihre Arbeit „In Flow Of Words“ ausgezeichnet wurde, ein berührender Film über drei Dolmetscher:innen beim Jugoslawientribunal in Den Haag.
Videonale: bis 14.5., c/o Kunstmueseum Bonn

Während du schläfst: Urbane Künste Ruhr 2023

Das Motto der diesjährigen Urbanen Künste Ruhr lautet „Ruhr Ding: Schlaf“. Foto: Heinrich Holtgreve

Unter der Künstlerischen Leitung von Britta Peters wandert Urbane Künste Ruhr seit 2019 durch das Ruhrgebiet. Nach „Ruhr Ding: Territorien“ und „Ruhr Ding: Klima“ bildet nun „Ruhr Ding: Schlaf“ den Abschluss der Ausstellungstrilogie. Vom 5.5. bis 25.6. wird der öffentliche Raum in Mülheim an der Ruhr, Essen, Witten und Gelsenkirchen-Erle bespielt. 22 Werke von 19 Künstler:innen rufen dazu auf, die Facetten des Schlafes zu erforschen. Als Phase des Nicht-Produktiv-Seins und Nicht-Konsumierens ist Schlaf schon fast ein Akt des Widerstands. Es geht um Träume und Albträume, Kontrolle und Kontrollverlust, die Vermessung des Körpers und den Umgang mit der Zeit. Die zentrale Frage lautet: „Wie wollen wir leben?“
Der polnische Filmemacher, Musiker und Dichter Wojciech Bakowski lotet in einem leerstehenden Kiosk in Essen psychische Prozesse aus. In Witten widmet sich Melanie Manchot in ihrer Videoarbeit „Liquid Skin“ dem Leben bei Nacht und Nachtarbeiter:innen im Ruhrgebiet. Im Mülheimer Makroscope zeigt das Kollektiv The Wig um die walisische Künstlerin Angharad Williams Arbeiten zum Individuum in einer kapitalistischen Welt. Und in der Alten Dreherei macht Michel Gondrys „Home Movie Factory“ Station. Das Projekt tourte schon in New York, Tokio und Paris: In einem dreistündigen Parcours durch 14 Bühnenbilder können Teilnehmende ihren eigenen Film auf die Leinwand bringen.
Urbane Künste Ruhr/Ruhr Ding: Schlaf: 5.5.–25.6., Mülheim an der Ruhr, Essen, Witten, Gelsenkirchen

Kunst meets Industriechic: New Now auf Zeche Zollverein

Solche Eindrücke erwarteten einen 2021 beim New Now auf der Zeche Zollverein. Foto: Sven Lorenz / Stiftung Zollverein

Als Labor für digitale Künste versteht sich das biennale Festival New Now, das vom 1.6. bis 6.8. auf der Zeche Zollverein gastiert. „Hypernatural Forces“ heißt das Thema und lenkt die Aufmerksamkeit auf den Wandel von der Industrialisierung zur Digitalisierung und seine umwälzenden Kräfte. Kunstschaffende zeigen was passiert, wenn Natur, Mensch und Technologie in Dialog treten. Zollverein, einst größte Steinkohlezeche der Welt und Symbol des Fortschritts wie auch der Ausbeutung, bildet hierfür die adäquate Kulisse.
Sieben Residenzkünstler:innen haben eigens für diesen Ort Arbeiten konzipiert, deren Entstehung die Besucher:innen begleiten können. Am Eröffnungswochenende (1.–4.6.) startet das Festival mit verschiedenen Formaten, darunter eine Konferenz als diskursive Plattform, die Immersive Sound Night sowie die ThinkHalle mit Workshops und Guided Tours. Außerhalb des Geländes laden im Juni und Juli die „Satelliten“ dazu ein, das Festivalthema an spannenden Orten im Ruhrgebiet zu vertiefen.
New Now: 1.6.–6.8., Zeche Zollverein, Essen

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