Ruhrfestspiele Recklinghausen: Fest der Sinne

Figurentheater, Film, Show - Kid Koala präsentiert "The Storyville Mosquito". Foto: Brian Neuman
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Die Ruhrfestspiele rufen und die internationale Kunst- und Theaterszene kommt. Das zeitgenössische Programm umfasst internationales Schauspiel und Tanztheater, Aufführungen renommierter deutscher Bühnen, Literatur, Produktionen des Neuen Zirkus und sorgfältig ausgewählte Kinder- und Jugendtheaterstücke. Darüber hinaus bieten multidisziplinäre Performanceproduktionen, bildende Kunst, Konzerte und neue Diskussionsformate die Möglichkeit, sich mit relevanten politischen Fragen der Gegenwart und Zukunft auseinanderzusetzen. Seit der Festivalsaison 2019 ist Olaf Kröck der Intendant der Ruhrfestspiele. Gemeinsam mit seinem Team sieht er die Ruhrfestspiele als einen offenen Ort der Begegnung, an dem Besucher:innen und Künstler:innen in einen Austausch über die drängenden Fragen der Zukunft treten können.

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Kid Koala – The Storyville Mosquito

Das Programm verspricht „Figurentheater“ – die Zuschauer:innen bekommen aber so viel mehr! Musik, Puppentheater, Filmproduktion, alles zusammen und live auf der Bühne der Ruhrfestspiele in Recklinghausen. 15 Akteur:innen, 75 Puppen, vom Miniatur-klein bis über-lebensecht-groß, acht mobile Kameras und eine Vielzahl an puppenhausgroßen Bühnenbildern: Die Show von und mit Kid Koala lässt sich kaum in Worte fassen, so vielschichtig sind die rund 90 Minuten. Schon beim Hereinkommen begrüßt das Publikum die offene Bühne. Es sieht aus wie in einem Film- beziehungsweise Tonstudio. Zum Glück ist genügend Zeit, die liebevoll gestalteten Häuser und Straßenzüge vom Bühnenrand aus auf sich wirken zu lassen. Dann wird der Zuschauer:innenraum dunkel, Kid Koala, kanadischer DJ und Theatermacher, kommt auf die Bühne. Schon seine Präsenz ist überragend. Er begrüßt das Publikum und erzählt mit wenigen Worten, was nun kommt. Spätestens jetzt hat er auch die letzten Skeptiker:innen eingenommen.

Liebevolle Kleinarbeit und faszinierende Gliederpuppen ergeben eine multimediale, fantastische Show. Foto: AJ Korkidakis

Atmosphäre eines 50er Jahre Stummfilms

„The Storyville Mosquito“ bietet eine faszinierende Verschmelzung von Musik, Puppentheater und Live-Filmproduktion, die das Publikum in eine zauberhafte Welt entführt, die an die gute alte Zeit der Stummfilme mit Musik erinnert. In der Bühnenshow erzählt Kid Koala die bewegende Geschichte einer jungen Mücke, die mit ihrer Klarinette im Gepäck das heimische Dorf verlässt, um in der großen Stadt Ruhm und Glück zu finden. Ihr Ziel ist es, in der renommierten Jazzband von Sid Villa’s Music Hall zu spielen.

Was die Zuschauer:innen auf der Bühne erleben, ist ein wahres Fest für die Sinne: In Echtzeit entsteht ein Animationsfilm von Hollywood-Qualität als virtuose Live-Performance direkt vor den Augen des Publikums. Den Soundtrack dazu liefern ein Streichertrio und der Multiinstrumentalist Kid Koala höchstpersönlich, der an den Turntables, mit der Klarinette und einer Vielzahl anderer Instrumente für die musikalische Untermalung sorgt und jeder Figur ihren charakteristischen Ton gibt.

Charlie Chaplin lässt grüßen

„The Storyville Mosquito“ erzählt von den Sehnsüchten nach Glück, den Rückschlägen und dem Mut, sich wieder aufzurappeln. Es ist eine Huldigung an die Suche nach Glück in den kleinen Augenblicken des Lebens, die direkt ins Herz trifft. Ein amüsantes und zugleich tief berührendes Theatererlebnis im Stil von Chaplin, das die ganze Familie begeistert und genreübergreifende Kunst in ihrer schönsten Ausformung präsentiert. Für die Zuschauer:innen gibt Kid Koala nach der Show noch einen kleinen Einblick in das „How to“ des Projekts – eben einfach ein Gesamtkunstwerk!

Kid Koala, im normalen Leben Eric San, ist ein in Montreal ansässiger Scratch-DJ, Filmkomponist, Theaterproduzent und bildender Künstler. Mit sechs Soloalben und Zusammenarbeiten mit Größen wie Radiohead, Arcade Fire, Beastie Boys und Gorillaz hat er sich einen Namen gemacht. Seine Musik war Teil von Projekten des National Film Board of Canada und diverser US-amerikanischer Fernsehsender sowie der Soundtracks bekannter Filme wie „The Great Gatsby“, „Baby Driver“, „Scott Pilgrim vs. The World“ und „Looper“.

Präsentiert in Kooperation mit dem Figurentheaterfestival FIDENA Bochum (7. bis 12. Mai 2024).

Thomas Bernhard, Der Theatermacher

Theater ist alles, alles ist Theater! Mit diesem Leitsatz tourt der „Staatsschauspieler“ Buscon über die Dörfer. Seine Familie, Frau, Tochter und Sohn, sind sein Ensemble und werden von ihm gequält, herabgesetzt, und benutzt. Seine Spielorte: Heruntergekommene Mehrzweckhallen, vollgestopft mit Gerümpel. In Utzbach scheint es besonders schlimm zu sein – bereits der Name des 280-Seelen-Dorfes bereitet Buscon, genial verkörpert von Stefanie Reinsberger, körperliche und mentale Probleme; es ist erstaunlich, auf wie vielfältige Weise „Utzbach“ gehustet, gewürgt oder verschluckt werden kann.

Stefanie Reinberger ist „Der Theatermacher“. Foto: Matthias Horn

Wie soll er in diesem kunst- und kulturfeindlichen Umfeld seine monumentale Komödie „Das Rad der Geschichte“ aufführen? Das Wichtigste: Die Notbeleuchtung müsse unbedingt für die letzte Szene gelöscht werden, ansonsten verfehle seine Inszenierung vollständig die beabsichtigte Wirkung! Das ist Buscon zunächst das allerwichtigste Anliegen. Dann die Sorge um die bereitgestellte Spielfläche: werden die vermutlich morschen „Bretter, die die Welt bedeuten“, das Gewicht der Weltkomödie tragen können? Und zu allem Überfluss ist dann auch noch die völlige Abwesenheit von Talent bei Gattin, Sohn und Tochter.

Stefanie-Reinsberger-Festspiele

An diesem Abend sind die Ruhrfestspiele Stefanie-Reinsberger-Festspiele. In der Inszenierung des Berliner Ensemble-Intendanten Oliver Reese wütet sie als Buscon über die Bühne – ein Naturereignis, dem man sich nicht entziehen kann. Sie schreit, geifert, schwitzt und verzweifelt, sie schimpft, droht und schlägt um sich, Stefanie Reinsberger zeigt anschaulich Wut, Frust, Ohnmacht und Größenwahn, mit Ganzkörpereinsatz und allerhöchster Schauspielkunst.

Kurze Pause vom Wahnsinn mit Fritatensuppe. V.l. Adrian Grünewald, Stefanie Reinsberger, Christine Schönfeld, Wolfgang Michael, Dana Herfurth. Foto: Matthias Horn

Zwischen aller brachialen Energie schafft es Reinberger aber, auch leise und nachdenkliche Töne zu setzen. Dann hört man als Zuschauer:in genau hin, fühlt fast schon mit der geschundenen Künstlerkreatur. Diese Momente der Sympathie sind kleine Inseln des Aufatmens, die die darauf folgenden Brutalo-Szenen, sowohl körperlich als auch psychisch, noch einmal steigern.

Glänzendes Berliner Ensemble

Sich neben der fulminanten Hauptdarstellerin in diesem Fast-Monolog zu behaupten, ist nicht leicht. Die Schauspieler:innen Christine Schönfeld (Frau Buscon), Dana Herfurth (Tochter Sarah), Adrian Grünewald (Sohn Ferruccio) und Wolfgang Michael (Wirt) allerdings schaffen das ohne Probleme. Herfurth und Grünewald spielen die unterdrückten Kinder mit stummer Wut und angemessenem Frust, Christine Schönfeld hustet ihrem Gatten was (wortwörtlich!). Erstaunlich, dass sie es bei diesem Despoten als Vater respektive Ehemann und Regisseur noch aushalten und ebenso erstaunlich, dass sie sich ihren eigenen Kopf bewahrt haben.

„Halt mich fest, hab mich lieb“ – ein Tyrann befiehlt Zuneigung. V.l. Dana Herfurth, Stefanie Reinsberger. Foto: Matthias Horn

Bei so viel Überheblichkeit des Protagonisten muss sich die Realität wehren: Die Gewitterschwüle entlädt sich in einem fulminanten Unwetter, der Regen durchbricht das Dach und flutet die Behelfsbühne. Das Stück kann nicht zu Ende geführt werden, der einzige Zuschauer, der Wirt, applaudiert trotzdem. Ein Sinnbild des Jammers.

Thomas Bernhard, Der Theatermacher. Gastspiel des Berliner Ensemble.
Mit Stefanie Reinsperger (Bruscon Theatermacher), Christine Schönfeld (Frau Bruscon,  Theatermacherin), Dana Herfurth (Sarah, deren Tochter),  Adrian Grünewald (Ferruccio, deren Sohn),  Wolfgang Michael (Der Wirt) sowie Valentin Butt, Peer Neumann, Natalie Plöger / Ralf Schwarz (Live-Musik).
Regie Oliver Reese, Bühne Hansjörg Hartung, Kostüme Elina Schnizler, Komposition Jörg Gollasch, Licht Steffen Heinke, Dramaturgie Johannes Nölting

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