Am 11.5. findet das 68. Finale des Eurovision Song Contest statt, des größten Musikwettbewerbs der Welt. Den schauten im letzten Jahr 7,4 Millionen Deutsche. Als Lena 2010 gewann waren es sogar über 14 Millionen. Weltweit konnte 2016 erstmalig die 200-Millionen-Marke geknackt werden. Doch ist der ESC wirklich nur einen einzigen Abend im Jahr relevant? Nicht für die Mitglieder des EC Germany e.V., einem von zwei Eurovision-Fanclubs in Deutschland. Hat der OGAE Germany seinen Sitz in Bayern, trifft man Mitglieder des ECG schnell hier in der Gegend. Eine Vielzahl kommt aus Düsseldorf, Köln, aber auch aus dem Ruhrgebiet. Wir quatschten mit vier besonders treuen Fans, die seit Jahrzehnten der Megashow mehrere Monate im Jahr entgegenfiebern – wodurch sogar ganze Lebensinhalte verändert wurden.
Verena: Schon mit 15 mittendrin, statt nur dabei
Starten wir doch direkt mit der Ausnahme in der Runde: Verena ist die einzig weibliche Person in unserem Meeting. Generell im Fanclub, der aktuell etwas mehr als 1200 Mitglieder zählt, ist sie das aber natürlich nicht. Trotzdem kann an dieser Stelle gesagt werden, dass das Klischee zutrifft – die meisten Mitglieder sind männlich und queer. „Aber das ist tatsächlich eher ein deutsches Phänomen, in anderen Ländern, besonders in Skandinavien ist der Anteil wesentlich ausgeglichener“, weiß die 43-jährige, die wohl eine der jüngsten ESC-Liebhaber:innen überhaupt in einem Fanclub war.
Bereits mit 15 tritt sie erstmalig ein, darum muss sich damals noch ihre Mama kümmern. „Meine zehn Jahre ältere Schwester hat das immer geschaut. Ich mochte die Vielfalt sehr. Mitte der 90er gab es noch die Pflicht, auf Landessprache zu singen. Das habe ich total geliebt, weil man ansonsten nirgendwo solche Songs hören konnte. Und weit vor dem Internet gab es eben keine Möglichkeit an News zu kommen, außer über den Fanclub…“ Man sagt, dass Verena tatsächlich die erste Frau im Fanclub ist, die freiwillig mitwirkt und nicht von irgendwem mitgezerrt wird, wie sie lachend erzählt.
Bernd: Einfachereres Outing dank ESC-Bubble
Bernd wohnt in Frankurt, ist mit knapp über 50 der älteste bei unserem Gespräch, aber im Fanclub nur knapp über dem Durchschnittsalter, das die Vier auf Mitte 40 schätzen. Bernd erinnert sich noch daran, dass einen Tag vor seiner Kommunion Nicole als Erste den ESC für Deutschland gewann, ihn das aber eher nur beiläufig interessierte, weil ihm alles zu international war. Für ihn ist der Fanclub aber ganz nah mit seinem Outing verbunden. Ein Safespace, in dem er nicht nur Gleichgesinnte musikalisch, sondern ebenso andere aus der Gay-Community traf. Über seine erste queere Party kommt er an ein Szenemagazin, in dem der Eurovision Song Contest als größtes Event für die Community angepriesen wird, sodass er neugierig mal reinschaut. Anschließend kann er sich dem Phänomen nicht mehr entziehen, outet sich mit dem Rückhalt der neuen Bekannten aus der ESC-Welt und findet zu sich.
Seit vielen Jahren moderiert er mittlerweile das jährlich im Spätherbst stattfindende große Fanclub-Treffen im Kölner Gloria. Dort gibt es ein buntes Bühnenprogramm, das aus Fanclubmitgliedern und internationalen, früheren ESC-Teilnehmenden zusammengesetzt ist und mit einer riesigen Clubnacht ausklingt. Auf der legt übrigens Konstantin auf, der in Bernds Alter ist und tatsächlich international auf Partys ausschließlich ESC-Songs aus rund 60 Jahren spielt.
Florian: Freundschaften in aller Welt
Fragt man Florian, einen 38-jährigen Düsseldorfer und Ex-Ruhrpottler, warum er den Eurovision Song Contest so liebt, antwortet er, ohne groß nachzudenken, dass es einerseits die Begegnungen mit Menschen aus ganz Europa sind. Ok, seit 2015 sind es sogar vereinzelt Menschen aus Australien, das ist definitiv erwähnenswert. Hauptsache, es sind nicht unbedingt deutsche Fans, das langweilt ihn eher.
Aber Flo liebt auch die gesamte Woche, in der der ESC jährlich in einer anderen Stadt sein Zuhause findet und es täglich überall Partys in Clubs und Bars gibt. Weil es ihm so viel bedeutet, probiert er zumindest alle zwei Jahre in der jeweiligen Woche vor Ort zu sein. In Malmö ist er 2024 auch wieder am Start. 1997 hat er erstmalig von der heimischen aus Couch mit einem Nachbarsjungen beim deutschen Vorentscheid zugeguckt, von da an wuchs sein Interesse jährlich.
Benjamin: Wenn aus zwei Hobbys eins wird
Sein Zimmer teilt er sich mit Benjamin, dem Vizepräsidenten des eingetragenen Vereins, der 2000 gegründet wurde. Benni, der in diesem Jahr 40 wird, ist zwar erst seit der Titelverdeigung von Lena in Düsseldorf im Fanclub, interessiert sich aber als Kind schon seit den frühen 90ern für den Contest, besonders für die spannende Punktvergabe. Leider war er damit häufig in seinem Umfeld etwas allein, sodass ein Besuch beim Fanclub-Stammtisch in einem Café, in dem er auch Bernd kennenlernt, sämtliche Türen für ihn öffnet. Er connectet mit den Menschen, ist ab 2011 ausnahmslos bei jedem Wettbewerb vor Ort und hat stets Tickets für die Liveshows. Etwas, was bis 2002 übrigens besonders schwierig war, erzählt Bernd, da es erst seitdem Möglichkeiten gibt, Tickets über den Fanclub zu kaufen. Vorher sind viele sogar in die jeweiligen Länder gereist, um an der Halle für Karten anzustehen.
Doch zurück zu Benni: Gleichzeitig ist dies auch der Startschuss für seine große neue Leidenschaft, nämlich das Reisen. Obwohl 2012 der ESC im aserbaidschanischen Baku stattfindet, was regulär keine typische Urlaubsstadt ist, fliegt er allein hin. Ein Gamechanger. Benni, hauptberuflich Journalist, schreibt seitdem auch für den Fanclub im großen Umfang Berichte und trifft aktiv Entscheidungen mit. Sogar sein Selbstwertgefühl ist laut ihm durch den Wettbewerb und das Drumherum erheblich gestiegen. Mit Reisen hat Verena es auch, die, wenn es sie richtig packt, sogar nur für einen Tag mal nach Kopenhagen fliegt, um dort an einem Fanclubtreffen teilzunehmen.
Eintauchen in eine Welt, in der alle dasselbe lieben
Alle vier sind sich in einer Sache absolut einig, nämlich dass ihr Bekanntenkreis sehr oft nicht versteht, warum sie für ihr Hobby so brennen. „Die meisten fragen zwar schon interessiert nach, wohin es denn nun wieder geht und finden dann das Reiseziel vielleicht cool, aber dass ich dafür so viel Geld ausgebe und extra Urlaub nehme, ist für die meisten komplett abwegig“, erzählt Florian. Doch jedes Mitglied würde aus vollster Überzeugung sagen, dass der Eurovision Song Contest wahnsinnig bereichernd für sie ist. Nicht nur, weil man musikalisch mehr kennenlernt, sondern eben auch der Umgang mit Fremden permanent leichter fällt, Toleranz geschult wird und, was Florian ebenso liebt, es wirklich mal die ganze Zeit nur um Musik geht. Gerade heutzutage, in der Musik viel in Bubbles stattfindet, alle etwas anderes hören und man nur noch schwer Trends hinterherkommt, weiß er, dass hier jede:r dasselbe mag wie er.
Aber natürlich ist auch der ESC eine Bubble. In Deutschland sogar eine recht kleine. Zwei Fanclubs, von denen einer gerade einmal 1200 Mitglieder zählt? „Die Allermeisten gucken ausschließlich das Finale und beschäftigen sich auch nicht vorher mit dem Thema“, weiß Bernd. Das Thema ist immer noch nischig, auch wenn so viele an dem jeweiligen Samstagabend im Mai zuschauen. Ein kleines Hoch erlebte der Fanclub nach dem Sieg von Lena, den Bernd live vor Ort in Oslo miterlebte und als eines der absoluten ESC-Highlights seines Lebens abgespeichert hat. Danach gab es plötzlich einen Push und viele Neuzugänge im EC Germany e.V.. Seitdem Deutschland aber im letzten Jahrzehnt viele Pleiten aushalten musste, ist das Interesse wieder weniger geworden.
Eurovision Song Contest: Alles ist möglich
„Das Schöne ist ja auch, dass es ein Abend ist, an dem egal ist, wie groß das Land ist und wie viele Menschen dort wohnen. Ein Abend, an dem San Marino die gleiche Macht hat wie Deutschland“, erklärt Bernd. Jedes Land darf nämlich dieselbe Menge an Punkten vergeben, das war schon immer so. Deswegen ist der ESC auch bei unseren Nachbar:innen in den Niederlanden wesentlich populärer und anerkannter – eine Nation, die sonst in Europa oft etwas untergeht, hier aber schon fünfmal gewinnen konnte und international dadurch an Anerkennung gewinnt. Flo beobachtet aber besonders vor Ort während der ESC-Woche, dass das Publikum auch einige jüngere Menschen umfasst, die mitfeiern. „Wahrscheinlich sind Fanclubs für Jüngere einfach nicht mehr so attraktiv“, glaubt Bernd. Außerdem hat er den Gedanken, dass einige der deutschen Acts nicht genug Identifikation für die Gen Z bieten.
Natürlich haben alle vier das Eurovision-Song-Contest-Analysespiel zigfach durchgezockt. Auf die Frage hin, ob es manche Länder in ihren Augen leichter haben als andere, kommt ein einstimmiges Ja. Schwer haben es kleine Nationen, die wenig in anderen Ländern vertreten sind. Zum Beispiel gibt es wenig Österreicher:innen, die nicht in Österreich leben. Fürs eigene Land abstimmen, geht bekanntlich nicht. Dafür gibt es aber viele Menschen aus Polen, Bulgarien und Rumänien in anderen Ländern, die immer fleißig für ihre alte Heimat abstimmen. Skandinavien steckt wesentlich mehr Aufwand in die Vorentscheide als Deutschland. Hier werden nur die besten Komponist:innen rangezogen, sodass auch stets gute Songs teilnehmen. Das spielt eine große Rolle. Von dem Vorurteil, dass man Deutschland in Europa einfach nicht mag, halten sie gar nichts. Schließlich habe man 2010 gewonnen, 2018 mit Michael Schulte einen vierten Platz gemacht und oft auch einfach unterdurchschnittlich performt. Fair.
EC Germany e.V.: Und wer gewinnt nun?
Da sich der ESC permanent weiterentwickelt, sehen die Vier auch ein paar negative Aspekte. Verena vermisst bei vielen Ländern den nationalen Aspekt und hätte gern mehr landestypische Sounds, Benni kritisiert, dass seit Corona die Backgroundstimmen vom Band kommen dürfen. Bernd ist davon genervt, dass man alle Songs schon Monate im Voraus hören kann und sie in der Bubble natürlich auch von dem Moment an permanent gespielt wird. Beim Wettbewerb selbst kann er einige Titel dann schon gar nicht mehr ab.
Und wer macht nun 2024 das Rennen? Das ist diese Saison gar nicht so einfach abzuschätzen, sind sich alle sicher. Es gibt bei den Buchmacher:innen die Schweiz nach zig Jahren erstmalig wieder als Favoriten. Aber auch Italien, ein Land, das immer gut abschneidet. Persönlich sind die Vier große Fans von Österreich, Kroatien, Finnland oder der Ukraine. „Es braucht im Finale das gewisse Etwas“, sagt Flo, und das haben alle genannten Beiträge. Verena tippt, dass das Siegerland weder im Televoting noch im Juryvoting den ersten Platz macht, sondern nur durch die Gesamtpunktzahl den ersten Platz holt. Spannende Theorie. Wir wünschen jedenfalls allen bei ihrem Hobby, das ihr Leben erheblich verändert und verschönert hat, in den kommenden Tagen im schwedischen Malmö tolle Momente.
Mehr zum Eurovision Club Germany e.V. auf der Website, bei Facebook und Instagram.
Mehr zum Eurovision Song Contest findest du auf dieser Website, bei Facebook, Instagram.
Erlebe den Mai!