Graubärtige ältere Herren, die stundenlang auf ein Spielbrett starren, dann mit Stirnrunzeln und behäbig eine Figur bewegen, dann sich zufrieden lächelnd zurücklehnen. So sah Schach idealtypisch in der Vorstellung vieler Menschen aus. In der Pandemie wurde aus dem Spiel der Könige das Spiel der Stunde. Alle wollen zocken, wie konnte das passieren? Tom Thelen weiß Bescheid.
70.000 ergeben ein Ganzes
Während diese Zeilen getippt werden, an einem Werktag gegen Mittag, laufen auf der Online-Plattform Lichess.org 36.800 Partien Schach. Das bedeutet, gut 70.000 Spieler:innen sitzen also irgendwo auf der Welt vor Rechner, Handys, Tablets und zocken Schach. Lichess ist nur eine von drei, vier großen Plattformen für das Spiel, das lange mit Rentner:innen im Park assoziiert wurde. Online-Schach ist schon seit den späten 90ern präsent, seit der Pandemie 2020 ist es allerdings Kult.
Netflix sei Dank!
Das hat gleich mehrere Gründe. Einer der wirkmächtigsten ist eine Fernsehserie: „The Queens Gambit“, „Das Damengambit“, ist 62 Millionen mal auf Netflix angesehen worden, ist somit eine der erfolgreichsten Mini-Serien aller Zeiten. Darin wird der fiktive Weg einer Schachspielerin an die Weltspitze geschildert, in grandiosen Kulissen, mit tollen Kostümen und einer herausragenden Schauspielerin in der Titelrolle, Anya Taylor-Joy. Echte Schachspieler:innen hatten oft, sehr oft, Grund zu klagen über die Darstellung ihres Spiels in Filmen, in der Werbung, auf Fotos. Nicht regelkonforme Stellungen und Züge waren zu sehen, es spielten zumeist Klischee-Pappkameraden mit krassem Nerdfaktor.
Zuletzt waren es etwa die SPD-Granden Helmut Schmidt und Peer Steinbrück, die sich beim Schachspiel fotografieren ließen und dabei das Brett falsch aufgestellt hatten (Merke: Weiße Dame, weißes Feld, dann kann nix schiefgehen).
Für „Das Damengambit“ hatten die Macher:innen aber sogar Ex-Weltmeister Garri Kasparow ins Boot geholt, damit derlei nicht passierte. Und für die Szenen in Sachen Blitzschach wurde sogar eine deutsche Großmeisterin als Hand-Double eingesetzt. Und so entstand die erste realistische Schach-Fernsehserie. Nicht ganz realistisch dabei die Story, denn in der Zeit, in der die Serie spielt, gab es keine Spielerin, die in die Dimensionen vorstoßen konnte, in die Beth Harmon sich spielt.
Ihre Geschichte ist eher an den kometenhaften Aufstieg des exzentrischen Amerikaners Bobby Fischer angelehnt, der es quasi im Alleingang mit der Übermacht des sowjetischen Schachs aufnahm und 1972 Weltmeister wurde.
Inspiriert von der Serie begannen offenbar sehr viele, auch junge Leute mit dem Schach. So viele, dass Bretter und Schachuhren bei vielen Händler:innen gerne mal ausverkauft waren.
Twitch & Jägermeister & Pandemie
Ein weiterer Push ereilte den Schachsport durch die Gaming-Plattform „Twitch“. Plötzlich bekamen „Schach-Streamer“ massiven Zulauf. In den USA ist es vor allem der ehemalige Top-10-Spieler Hikaru Nakamura, dessen Blitzschach-Künste regelmäßig von mehreren Zehntausend Follower:innen bestaunt und auch honoriert werden. Massive Reichweite haben auch die kanadischen Schwestern Alexandra und Andrea Botez, die einerseits recht gut Schach spielen, dazu und dabei aber auch nicht auf den Mund gefallen sind und blendend aussehen. Auch die Großmeister Armand Hambleton und Eric Hansen aus Kanada geben dem Sport ein punkiges Gesicht, sie hören massiv laut Techno und House zum Spiel und trinken gerne Jägermeister und Cocktails.
Hierzulande ist es vor allem „The Big Greek“, der deutschsprachig das Spiel emotional und hingebungsvoll seinen Fans nahebringt. Giorgios Souleidis ist sehr beliebt, das mag auch an seinen gelegentlichen Ausrastern liegen, bei denen auch schon mal die Computermaus in die Ecke gefeuert wird. So hat man Schach früher halt noch nie gesehen.
Und so boomt Schach auf einmal, ein uraltes Spiel, das durch technische Möglichkeiten plötzlich das perfekte Spiel in einer weltweiten Pandemie geworden ist. Ob das Schach, das irgendwo zwischen Spiel, Sport und Wissenschaft steht, davon dauerhaft profitiert, wird die Zeit zeigen. Der Deutsche Schachbund hat es historisch natürlich noch immer notorisch vergeigt, irgendwelche Profite aus kleineren Erfolgen seiner Spitzenspieler:innen oder des Sports allgemein zu ziehen. Ob das 2021 anders wird?
Der Internationale Schachtag wäre eine gute Gelegenheit. Das ist ein weltweiter Aktionstag, der jährlich am 20. Juli gefeiert wird. Es handelt sich dabei auch um den Gründungstag der FIDE, des internationalen Schachverbandes (20. Juli 1924). Fragt man allerdings in Schachpieler:innenkreisen, ist dieser Tag nicht besonders populär.
Dortmund im Schachfieber
Viel populärer in ganz Schachdeutschland ist dagegen ein Turnier, das Jahr für Jahr in Dortmund Tradition hat. Hier wird Schach noch ungefähr so zelebriert, wie es in der Netflix-Serie zu sehen ist. Große Meister werden auf großer Bühne gezeigt, lange Bedenkzeit steht zur Verfügung (meist 2 Stunden für 40 Züge), die Stellungen werden auf Demonstrationsbrettern zur Verfügung gestellt, die Atmosphäre ist fast sakral. Die Dortmunder Schachtage werden 1973 zum ersten Male ausgetragen mit einem Paukenschlag:
Die Turnierhistorie erzählt: „Das Turnier beginnt am 17. Mai 1973 im Westfalenpark. Am Brett sitzt auch Boris Spasski. Der erste Auftritt des Ex-Weltmeisters seit seinem Kampf gegen Fischer zieht 4500 Zuschauer an. Amerikanische Journalisten sind laut Presseberichten angewiesen, alle Züge des Turniers nach New York zu kabeln – zu Fischer. Aber Turniersieger wird der Berliner Großmeister Hans-Joachim Hecht. Mit gleicher Punktzahl landet er nach Wertung vor Spasski und dem Schweden Ulf Andersson.“ Boris Spasski bildete nach einschlägiger Meinung das Vorbild zum „Endgegner“ der Filmfigur Beth Harmon, den sowjetischen Weltmeister Vasily Borgov. Aus den „Dortmunder Schachtagen“ wird ein Dauerbrenner mit stets guter internationaler Besetzung. Doch der Höhepunkt sollte noch kommen. Das Chess Meeting 1992 sieht Garry Kasparow, der in einer spektakulären Inszenierung in der Mitte einer Arena in den Westfalenhalle seine Gegner empfängt. Der Weltmeister und -star beendet das Turnier als Sieger, doch er verliert eine spektakuläre Partie gegen den deutschen Schach-Exzentriker Dr. Robert Hübner. Für viele Schachfans im Ruhrgebiet eine Sternstunde.
Danach blieb Dortmund immer ein Weltklasseturnier, bekam einst sogar den Beinamen „Das Wimbledon des Schachs“. Tatsächlich ist das Spiel am Bett immer noch so etwas wie die Königsdisziplin, auch wenn der aktuelle Weltmeister gut 20 Millionen Dollar für eine immer noch laufende Online-Turnierserie akquiriert und verteilt hat. Auch in diesem Jahr wird Dortmund (jetzt als Sparkassen Chess Trophy) ein Weltklassefeld zusammenbringen.
Mit dem Uzbeken Rustam Kasimjanov und dem Ukrainer Ruslan Ponomarjow spielen zwei der eher unpopuläreren Ex-Weltmeister aus einer Zwischenzeit streitender Verbände im Hauptturnier, dem Deutschland Grand Prix. Doch der 14. und der 15. Weltmeister der Schachgeschichte, der Russe Wladimir Kramnik und der Inder Viswanathan Anand werden einen Showkampf spielen. Allerdings in einer Schachvariante, dem No Castling Chess, also Partien ohne das Recht zu rochieren. Weitere Teilnehmer des Deutschland Grand Prix sind das ehemalige englische Wunderkind Luke McShane, der staubtrockene Pawel Eljanow, der schillernde Ex-Vize-Weltmeister Gata Kamsky, Mateusz Bartel aus Polen, der lange für Wattenscheid in der Bundesliga spielte, und gleich vier deutsche Top-Spieler: Georg Meier, Daniel Fridman, Dmitrij Kollars und mit besonderer Aufmerksamkeit zu beobachten: Der junge Vincent Keymer, der als deutsche Hoffnung auf höhere Weihen gehandelt wird. Er hat zuletzt etwas Boden verloren auf die zahlreichen indischen Wunderkinder, doch die gehen wohl auch nicht in die Schule.
Ob man das Turnier vor Ort ansehen kann, ist eher unwahrscheinlich. Stattdessen wird es vom 10. bis 18. Juli natürlich umfangreiche Web-Übertragungen mit Kommentaren und Berichten geben.
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