Mit den Zechen der Metropole Ruhr ist 2018 endgültig Schluss, die Bergbau-Ära des Ruhrgebiets endet. Mit dem Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop, dessen Industriebebauung in den frühen 1950er-Jahren vom Architekten Walter Brune entworfen wurde, schließt Ende des Jahres die letzte Zeche. Der Bergbau hinterlässt im Ruhrgebiet ein großes architektonisches Erbe. Die Bebauung des heutigen Dorstener Stadtteils Wulfen gehört zu den wohl spektakulärsten Projekten aus der Zeit der Montanindustrie, weiß Fabian Paffendorf.
Schöne Parkanlagen mit viel Grün, idyllische Alleen und ein großer See – beim entspannten Spaziergang durch Dorsten-Wulfen kann man die Natur von ihrer wohl schönsten Seite erleben. Abseits des Shopping-Rummels, der in der Dorstener City herrscht. In Wulfen gibt’s das Kontrastprogramm. Spielende Kinder, fröhliche Entchen und Menschen, die gerade ein Schwätzchen am Wegesrand halten, bestimmen die Geräuschkulisse an einem Spätsommertag. In Wulfen lebt sich’s ruhig, da lebt sich’s schön, formuliert einer der Passanten. Aber Wulfen ist anders als andere Stadtteile von Dorsten. Wulfen ist von Beginn an nämlich kein Stadtteil gewesen, wurde später zwar eingemeindet, aber fühlt sich trotzdem irgendwie gänzlich anders an. Wer sich genauer umschaut, die Architektur und Straßen in Wulfen näher betrachtet, dem wird dämmern, dass hinter Wulfen ein Plan stecken muss. Wulfen ist eine eigene Stadt – entworfen am Reißbrett in den späten 1950er-Jahren. Bereits 1938 wurde schon beabsichtigt, in diesem Gebiet zwischen den Städten Dorsten und Haltern eine Steinkohlenförderanlage mit zwei Schächten entstehen zu lassen. Bis der gesamte Feldbesitz, der für diesen Plan notwendig war allerdings in der Hand einer Gewerkschaft sein sollte, vergingen noch mehrere Jahre. Erst 1956, als der Mülheimer Bergwerks-Verein und die Gewerkschaft Mathias Stinnes in der Aktiengesellschaft Stinnes aufgingen, kam Bewegung in das Projekt.
Ab 1958 wurden die Schächte I und II der Zeche Wulfen niedergebracht, ihre Fertigstellung war für 1963 anvisiert. Rund 8000 Menschen sollten hier zukünftig arbeiten, so plante man. Aber wo sollten die Arbeiter und ihre Familien wohnen? Abhilfe sollte nördlich des Zechengeländes mit einem städtebaulichen Projekt geschaffen werden – der „Neuen Stadt Wulfen“. Eine Stadt, in der bis zum Jahr 1988 bis zu 50 000 Menschen leben sollten, war geplant. Obwohl die Kohlenkrise Ende der 1950er-Jahre die Zeit des großen Zechensterbens einläutete, wurde weiterhin an dem Wulfener Projekt festgehalten. Für dieses gewaltige Unterfangen eine gänzlich neue Stadt zu errichten, schlossen sich die Bergwerksgesellschaft Mathias Stinnes AG, der Kreis Recklinghausen, das damalige Amt Hervest-Dorsten, die Gemeinden Wulfen und Lembeck, ein Bankinstitut sowie der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk zur Entwicklungsgesellschaft Wulfen zusammen. 1961 schrieb diese Gesellschaft dann einen Städtebauwettbewerb aus. Verantwortlich für die Planung war die Berliner Planungsgruppe Grosche-Börner-Stumpfl. Der hohe Anspruch der Städteplaner: Die neue Stadt Wulfen sollte eine Stadt der Zukunft werden, die das Wohnen im Jahre 2000 vorwegnehmen würde. Nach Eröffnung der Zeche, die den wirtschaftlichen Grundstein für die neue Stadt bilden sollte, begann die Wohnbebauung auf der grünen Wiese. 1968 wohnten bereits 550 Menschen in der „Neuen Stadt Wulfen“, die über viele Jahre aber noch eine Dauerbaustelle sein sollte. Involviert in den Bau der neuen Stadt war zu Beginn der 70er-Jahre zudem das Bundesbauministerium, das in den Jahren 1971 bis 1973 drei Wohnungsbauwettbewerbe mit spezieller Zielrichtung auslobte. Im Jahr 1971 stand der Wettbewerb unter dem Thema „Flexible Wohnungsgrundrisse“. Mit Bundesgeldern gefördert wurde ein Bau, der die Hausnummern 1-40 an der Jägerstraße trägt: Das Experimentalwohnhaus „Habiflex“, das von den Gelsenkirchener Architekten Richard Gottlob und Horst Klement mitfinanziert und gebaut wurde. Merkmal des Hauses waren seine verschiebbaren Innenwände sowie sein futuristisches Äußeres.
Der Bundesbauwettbewerb 1972 trug den Namen „Elementa“, er brachte Wulfen die erst 1982 fertiggestellte Ladenpassage Wulfener Markt. Entworfen wurde sie von dem Team des bekannten Architekten Josef Paul Kleinhues, dem Schöpfer der Hamburger Deichtorhallen. Die Passage führte 5600 Quadratmeter Verkaufs- und rund 10 000 Quadratmeter Wohnfläche zusammen. 60 Wohnungen und 37 Ladenlokale umfasste die Planung des Gebäudekomplexes, dessen symbolischer erster Spatenstich am 10. Mai 1979 gefeiert wurde.
Der Bundesbauwettbewerb „Integra“ 1973 brachte die „Metastadt“, ein Fertighochhaus-Bausystem des Architekten Richard J. Dietrich, nach Wulfen. Der 1974 fertiggestellte Bau besaß 102 Wohnungen und diverse Ladenlokale. Im Folgejahr entstand mit der „roten Finnstadt“ eine weitere experimentelle Wohnbebauung aus vier kreuzförmigen, terassierten, fünfgeschossigen Häusern. Die „roten Finnstadt“ ist allerdings auch der einzige Experimentalbau Wulfens, der die Zeit mit Bravour überdauert hat. Denn bereits in den frühen 70er-Jahren begann das Großprojekt „Neue Stadt Wulfen“ aus den Angeln zu geraten. Statt der erwarteten 8000 Arbeitsplätze brachte die Zeche nur knapp 450 – und schon während des Baus der Stadt wurde das Gesamtprojekt immer weiter zusammengestrichen. Plötzlich plante man nur noch für knapp 30 000 Menschen. Und mehrere Bauten sollten das Jahr 2000 gar nicht mehr erleben. Aufgrund baulicher Mängel musste die Metastadt bereits 1987 wieder abgerissen werden.
Das Habiflex-Haus litt ebenso unter Problemen. Kurz nach dessen Fertigstellung bemerkte man die mangelhafte Isolierung der Wohnungen. Die Mängel waren so eklatant, dass sogar Kondenswasser aus den Steckdosen lief. Seit 2008 ist das Habiflex unbewohnt, die Stadt Dorsten ließ seine Eingänge 2010 zumauern. Auch die Einkaufspassage am Wulfener Markt verkam. Die 130 Meter lange, nach beiden Seiten offene Passage des Einkaufscenters, wurde immer weniger frequentiert. Besonders litt die Passage an ihrer mangelhaften Einbindung der benachbarten Ortsteile. So funktionierte sie nie als Tor und als Mittelpunkt der „Neuen Stadt Wulfen“, wie ein Gutachten von Stadtbaukultur NRW analysierte. 2008 wollte die Stadt Dorsten den Bau von der Eigentümerin, dem Medico-Immobilienfond Nr. 18, kaufen, aber der Eigentümerwechsel scheiterte. Zwar gab es nach der Insolvenz des Fonds einige Interessenten, aber die nahmen gleich wieder Abstand von dem Vorhaben oder die gebotenen Summen reichten Banken und der Stadt Dorsten als Gläubigerin nicht aus.
Seit 2017 gibt’s in der Passage keine Geschäfte mehr und die Immobilie wurde aus der Insolvenzmasse ihrer früheren Eigentümerin herausgenommen. Im September mussten die letzten Mieter aus dem Teil der Wohnbebauung ausziehen. Wulfen ist heute keine „Zukunftsstadt“ mehr, sondern ein Dorstener Stadtteil, der für rund 12 000 Menschen eine Heimat ist.
Diskussionsrunde „Ist das Metastadtsystem wieder zeitgemäß? Modulares Bauen heute“ : 7.11. (19 Uhr), Technisches Rathaus, Bochum