Nachkriegsarchitektur hat in der öffentlichen Wahrnehmung häufig einen schlechten Ruf: Die schäbigen Betonklötze sollten besser abgerissen werden, heißt es oft. Das Projekt „Big Beautiful Buildings“ der Initiative StadtBauKultur NRW und der TU Dortmund macht sich daran, das angekratzte Image der grauen Riesen aufzupolieren. Sie wollen zeigen, warum viele Bauwerke aus der Zeit erhaltenswert sind und welche Visionen Architekten einst mit ihnen verbanden.
„Natürlich war nicht alles, was zwischen 1949 und 1979 gebaut wurde, innovativ“, sagt Tim Rieniets, Architekt und Geschäftsführer von StadtBauKultur NRW. In den Wirtschaftswunder-Jahren sei sehr viel, sehr schnell und oft auch sehr mittelmäßig gebaut worden. Dazwischen hätte es aber auch viele visionäre Bauprojekte, insbesondere im öffentlichen Sektor gegeben, die mit einem hohen gesellschaftlichen Anspruch entstanden seien. Nach dem Krieg wollte man die dunkle Vergangenheit hinter sich lassen und in eine bessere Zukunft starten. Mit neuen Schulen, Universitäten, Rathäusern, Kaufhäusern, Kirchen und Wohnsiedlungen – moderne Gebäude für eine ebenso moderne und demokratische Gesellschaft.
Ein Theater für alle
Das Musiktheater im Revier (MiR) – in den 50er-Jahren geplant und errichtet unter der Federführung des Architekten Werner Ruhnau – ist so ein Beispiel. Waren Theater zuvor meist ehrfurchteinflößende Gebäude für die gut gekleidete bürgerliche Elite, mit einem großen Portal und nur über eine hohe Freitreppe erreichbar, sollte das Theater in Gelsenkirchen schon von außen vermitteln, dass es jedem offen stehe. Die große Glasfassade öffnet sich in Richtung Innenstadt und schafft so eine Verbindung zwischen Stadt und Kulturhaus. Außerdem revolutionär für damalige Verhältnisse: man konnte durch das Glas ins Innere des Theaters hineinschauen. „Viele empfanden das damals als obszön“, erzählt Rieniets. Das MiR ist das erste Gebäude, das die Initiative im April als „Big Beautiful Building“ ausgezeichnet hat. Ein vier Meter großes, weißes Label, das drei übereinander gelagerte „Bs“ zeigt, prangt nun auf der Fassade.
Eine Datenbank für Nachkriegsbauten
Mindestens 29 weitere Gebäude, darunter der Marler-Stern, die Grugahalle in Essen und die Woldenmey-Siedlung in Dortmund, sollen im Verlauf des Kulturerbe-Jahres 2018 als beispielhafte Bauten prämiert werden. Die Organisatoren haben bewusst diesen Rahmen gewählt, um deutlich zu machen, dass auch Nachkriegsbauten ein kulturelles Erbe sind, das erhalten werden sollte. Neben Preisverleihungen sind Ausstellungen, Vorträge und Performances vor Ort geplant. Der Schwerpunkt der Veranstaltungen soll im August und September liegen. Die genauen Termine werden auf der Webseite bigbeautifulbuildings.de veröffentlicht. Außerdem arbeiten die Beteiligten an einer Objektdatenbank, in der die Bauwerke mit einem Steckbrief, einer kurzen Beschreibung sowie einem Foto erfasst werden. Die begonnene Sammlung, in der auch schon der Dortmunder Florianturm vertreten ist, kann man sich bereits jetzt online anschauen.
„Die Auszeichnung ist kein Schönheitspreis“
Kritikern, die bei Nachkriegsarchitektur eher an maroden Beton, PCB-Belastung und undichte Flachdächer denken, entgegnet Architekt Rieniets: „Die Auszeichnung ist kein Schönheitspreis, sondern eher eine Aufforderung, sich mit dem jeweiligen Gebäude und seinem architekturhistorischen Kontext differenziert auseinanderzusetzen.“ Während das Musiktheater im Revier in Fachkreisen nahezu unumstritten als architektonische Perle gilt, hat die Ruhr-Uni Bochum (RUB), die am 21.6. die Auszeichnung erhalten soll, ein größeres Image-Problem.
Aber egal, ob man sie nun als triste Betonlandschaft betrachtet oder als großes Kunstwerk, in ihrer Architektur nehmen Ideen der Bildungsreform Gestalt an: Als erste Universität im Ruhrgebiet sollte sie in den 1960er-Jahren auch Arbeiterkindern den Zugang zur Hochschulbildung ermöglichen. Die durchlässigen Bildungsstrukturen spiegeln sich in den abstrakten Raumstrukturen. „Bei strukturalistischer Architektur werden die Räume neutral und offen belassen, damit Nutzer sich diese aneignen, sie gestalten und in Beschlag nehmen können“, erklärt Tim Rieniets. Die einzelnen Institutsgebäude sind um ein Achsenkreuz herum angeordnet und über Treppen und Fußgängerwege untereinander verbunden. Im Schnittpunkt der beiden Achsen liegt der große Forumsplatz. In dieser Konzeption lässt sich das Ideal einer interdisziplinären Hochschule erkennen, also einer Uni, bei der die einzelnen Fachbereiche miteinander verflochten sind und gleichberechtigt zusammenarbeiten.
Insgesamt 38 Prozent aller Gebäude des bundesdeutschen Baubestandes sind zwischen 1949 und 1979 entstanden und gehören damit zur Nachkriegsmoderne – eine beachtliche Zahl. Viele davon sind heute in keinem guten Zustand. „Sie wurden in der Vergangenheit nicht gut gepflegt und bewirtschaftet“, bedauert Rieniets. „Das hat leider oft den Effekt, dass Menschen hinter dem Schmutz den eigentlichen Wert nicht mehr sehen.“ Deshalb verbindet sich mit dem Projekt „Big Beautiful Buildings“ auch der dringliche Appell an Politik und Gesellschaft, sich stärker um den Erhalt dieser Bauwerke zu kümmern.