Literarische Spaziergänge durchs Revier: Literaturkarte Ruhr

Fotos : Lara Ingenbleek
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Literarische Spaziergänge durchs Revier: Vor dreieinhalb Jahren haben Komparatistik-Studenten der Bochumer Ruhr-Uni damit begonnen, literarische Orte in einer interaktiven Karte zu verzeichnen. Mit ihrer „Literaturkarte Ruhr“ laden sie dazu ein, die Region durch und mit Büchern zu entdecken. Kürzlich sind ausgewählte Orte als Buch erschienen.

Wie beschreibt Joseph Roth das Treiben am Duisburger Hafen Ende der 1920er-Jahre? Wo liegt der Bismarckturm, auf dem der Protagonist in Frank Goosens „Sommerfest“ seine alte Heimat überblickt? Und warum sorgte Georg Kreislers Gelsenkirchen-Lied für einen Skandal? Wer sich für Literatur interessiert, wird diese webbasierte Karte nicht mehr aus der Hand legen oder vom Smartphone wischen wollen. Über 360 literarische Orte sind mittlerweile auf ihr verzeichnet, Romanschauplätze und Orte an denen Autoren gelebt, geschrieben oder die sie bereist haben. Per Klick auf die bunten Markierungen erhält man weitere Infos, Textauszüge oder ganze Gedichte. „Die Rechte mit Verlagen für die Verwendung der Texte abzuklären, war eine Herausforderung bei unserer Arbeit“, erzählt Komparatistikstudent Philip Berendt.

Mit einem Seminar fing alles an
„Ziel des geplanten Lernprojekts ist die Erstellung einer ,Literarischen Karte des Ruhrgebiets als Webseite. Literarische Texte, Autoren und regional aktive Kulturinstitutionen sollen ‚medial kartiert‘, topographisch markiert und verlinkt werden, um die vielseitige Literaturszene des Ruhrgebiets […] zu präsentieren.“ – so hieß es in der Seminarbeschreibung im Vorlesungsverzeichnis des Wintersemesters 2015/16. „Anhand der Infos wusste man noch nicht so richtig, worauf man sich einließ“, sagt Philip rückblickend. Er hatte sich, wie rund 20 weitere Kommilitonen, für das Seminar von Dozentin Stephanie Heimgartner angemeldet „und schon bald gemerkt, dass die Arbeit über ein normales Maß hinausging.“ Zu Beginn standen konzeptionelle Überlegungen im Vordergrund: Was soll die Karte leisten? Wie soll sie grafisch aussehen? Und welche Infos gibt man einem Benutzer an die Hand? Auch Kommilitonin Leonie Hohmann meint: „Die Konzeption der Literaturkarte in den Jahren 2015 und 2016 war sicherlich der schwierigste und zeitaufwendigste Prozess.“

Viel Recherche- und Lesearbeit
Als Recherche-Grundlage dienten der Seminargruppe bereits vorhandene Bibliografien zur Ruhrgebietsliteratur, die sie systematisch durchforsteten. Außerdem suchten sie auf eigene Faust nach Bucherscheinungen. Am Ende stand eine große Datenbank, die alle recherchierten Titel erfasste. Neben der Primärliteratur (Romane, Sachbücher und Gedichtbände) versenkten sie ihre Köpfe auch in jede Menge Forschungsliteratur, um wissenschaftlich fundierte Erläuterungstexte schreiben zu können. Für die technische Umsetzung der interaktiven Karte war von Beginn an Kathrin Braungardt von der Stabstelle eLearning (RUBeL) an Bord. „Sie hat alle unsere Fragen beantwortet, uns gesagt, was möglich ist und was nicht geht. Bis heute ist sie unsere Ansprechpartnerin und immer da, wenn etwas nicht funktioniert“, sagt Philip. Für die Erstellung der Karte nutzte Kathrin Braungardt Open- Source-Webtechnologien wie die freie JavaScript-Bibliothek „Leaflet“. „Das Besondere ist, dass die Datenpflege komplett unabhängig auch von technischen Laien vollzogen werden kann, nämlich über eine Google Docs-Tabelle“, erklärt sie.
Nach Abschluss des Seminars am 15. März 2016, ging die Webseite „literaturkarte.ruhr“ mit rund 200 Markierungen online. Schon da stand für einige der Literatur-Kartografen fest: Wir machen weiter. Kurzerhand bildeten sie ein Redaktionsteam. Seitdem investieren sie viel Freizeit, um die weißen Flecken ihrer Landkarte zu füllen. Bei der räumlichen Definition folgt die Karte den Grenzen des Regionalverbands Ruhr. Was auch Philip entgegenkommt, der sich als Schwelmer gerade noch dem Ruhrgebiet zugehörig fühlen darf. Sein literarischer Lieblingsort? „Der Maximilianpark in Hamm, weil mich fasziniert, wie sie das alte Zechengebäude zum großen Glaselefanten umgebaut haben. Außerdem ist der Park super schön, dort kann man den ganzen Tag verbringen.“ Den Ort hat Philip für seine Recherche an Jörg Albrechts Zukunftsroman „Anarchie in Ruhrstadt“ (2014) besucht. „Ohne das Buch wäre ich wohl nie nach Hamm gekommen.“

Caroline Königs, Tina Häntzschel, Anna Brendt, Stephanie Heimgartner, Leonie Hohmann, Sofie Mörchen, Philip Behrendt (v.l.n.r.) |  Fotos (2): Lara Ingenbleek

Auch Leonie hat viele Orte erst durch ihre Mitarbeit am Projekt kennengelernt. Ihr Lieblingstext ist das Gelsenkirchen-Lied von Georg Kreisler: „Kreisler lässt kein gutes Haar an der Ruhrgebietsstadt mit G., die er als  „Grubengasparadies“ betitelt und erntet dafür 1961 einen analogen Shitstorm, angeführt vom Gelsenkirchener Oberstadtdirektor Hans Hülsmann. Dabei sind Text und Musik so fein und hämisch gearbeitet – das ist großes Kino“, meint sie. Knifflig wird die Arbeit für das Team immer dann, wenn ein Autor einen Ort in seinem Buch nicht explizit nennt und sie mit viel detektivischem Spürsinn nach Indizien fahnden müssen, die Aufschluss über den Aufenthaltsort einer Romanfigur geben könnten. „In solchen Fällen schreiben wir aber immer dazu, dass diese und jene Hinweise dafür sprechen, es sich aber um eine Vermutung handelt“, sagt Philip.

Aus der Karte wird ein Buch
Besonders freute es die Kartografen, als der Klartext Verlag mit dem Vorschlag an ihre Tür klopfte, ausgewählte literarische Orte in Buchform zu veröffentlichen. „Eine sehr luxuriöse Situation“, sagt Philip. Aber war es nicht schwierig, aus über 300 Orten, 31 fürs Buch auszuwählen? „Wir haben das demokratisch gelöst, jeder hat seine Lieblingsorte und -texte auf Zettel geschrieben und dann geschaut, welche am häufigsten auftauchen. So sind wir auf eine recht ausgewogene Liste gekommen.“ Als weitere Kriterien legte das Autorenteam fest: Die im Buch besprochenen Texte sollten verschiedenen Gattungen (Prosa, Lyrik, Sachliteratur) angehören, sie sollten aus unterschiedlichen Epochen stammen und möglichst Orte aus allen Teilen des Ruhrgebiets abdecken. Zu guter Letzt sollten es ansprechende Texte sein. Denn das ist ein Hauptanliegen der Kartografen: Lust machen auf Literatur! Betrachter sollten nicht nur die Einträge lesen und interessante Orte besuchen, sondern im besten Fall auch im dazugehörigen Roman schmökern. „Wenn ich mir etwas wünschen darf, dann Menschen, die das Ruhrgebiet, ihre Nachbarschaft, ihr nächstes Ausflugsziel oder die nächste Urlaubslektüre durch die Literaturkarte Ruhr kennenlernen. Und wenn das so ist, dann wollen wir das natürlich wissen!“, sagt Leonie, die inzwischen für ihren Master nach Berlin gezogen ist, aber von dort aus weiter begeistert am Projekt mitarbeitet und die Social-Media-Aktivitäten managt. Für die Zukunft hofft Philip, dass sich studentischer Nachwuchs findet, der die Karte mit vielen neuen bunten Markierungen versieht. Er selbst könnte sich vorstellen, auch noch nach seinem Uniabschluss am Projekt mitzuwirken.

 

Mitarbeit ausdrücklich erwünscht:

Dein Lieblingsautor taucht noch nicht auf der Karte auf? Oder dir fehlt ein essenzieller Romanschauplatz? Die Redakteure der „Literaturkarte Ruhr“ freuen sich über deine Mitarbeit. Details gibt’s unter: hier!

 

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