Herbstzeit ist Theaterzeit. Ob Ruhrtriennale oder die festen Häuser in der Region, Theaterfreund:innen haben im September und Oktober oft die Qual der Wahl. Auch in Bochum beginnt die Spielzeit. Wir haben uns die Eröffnungspremiere angesehen.
Warten auf Godot in Bochum
Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. In diesem Fall war es die vorgezogene Anfangszeit, die zumindest auf einen längeren Theaterabend einstimmte: Ulrich Rasche inszeniert Samuel Becketts „Warten auf Godot“ am Bochumer Schauspielhaus.
Weiter, immer weiter
Wer sich im Vorfeld mit dem Regisseur beschäftigt hatte, ahnte, dass eine Drehbühne ein wichtiges Element der Inszenierung sein könnte. Außerdem gilt Rasche als Meister der Arbeit mit und an der Sprache. Keine schlechten Voraussetzungen für ein Stück, das viele als Inbegriff des Absurden Theaters sehen.
Statt einer Drehbühne gibt es derer gleich zwei, ineinander liegend, die sich mal gegeneinander, mal miteinander drehen, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Die Hauptdarsteller, Steven Scharf als Wladimir und Guy Clement als Estragon, sind an diesem Abend reinste Marathon-Läufer, allerdings kunstvoll choreographiert: Sie schleichen, schreiten, arbeiten sich scheinbar nach vorne, der gesamte Körper ist in die Schrittarbeit integriert. Nach vorne geneigt, leicht in den Knien, die Arme und Hände minutiös auf die Bewegungen abgestimmt und anscheinend die Luft wegschiebend, wie ein Schwimmer das Wasser. Sie bewegen sich und sie werden bewegt durch die Drehungen. Die Konstellationen der Figuren zueinander ändern sich ständig, gegeneinander, nahe zusammen, auseinanderdriftend – ein schleichender, schreitender Tanz, der kein Ziel hat, außer der Bewegung als solcher. Man könnte sagen, in dieser Lesart haben Wladimir und Estragon nicht nur die Aufgabe, auf Godot zu warten, sondern auch (fort-) zu schreiten.
Wabernder Nebel im dunklen Bühnenraum
Das Zusammentreffen der beiden – sie haben sich offenbar eine Weile nicht gesehen – und später auch Pozzos (Dominik Dos-Reis) und Luckys (Yannik Stöber) findet im Nirgendwo statt. Keine Landstraße, kein Baum, wie die ursprüngliche Szenebeschreibung Becketts, nur die Drehscheiben im leichten Bühnennebel. Ansonsten Dunkelheit, im Hintergrund die Musiker, man ahnt sie mehr, als man sie sieht. Sie sind allerdings essentiell für die Inszenierung, weben einen Klangteppich, der den Rhythmus des Abends vorgibt. Dieser Klangraum umgibt förmlich nicht nur die Schauspieler, sondern auch die Zuschauer:innen. Das Licht ist weitestgehend auf die Figuren konzentriert, zusätzlich schwebt über dem Bühnengeschehen ein lichtspendendes Gebilde, das an eine Raumsonde erinnert, vielleicht im ersten Teil auch an das Objektiv eines Mikroskops: Die Menschen unter der Lupe einer Macht (Godot?), die nicht näher erklärt wird, auf die aber Wladimir und Estragon warten?
Pozzo als Sadist
Das abwechslungsreiche Einerlei zwischen Wladimir und Estragon wird unterbrochen durch Pozzo (Dominik Dos-Reis) und seinen Diener Lucky (Yannik Stöber). Dos-Reis gibt den Pozzo als sadistischen, geschmeidig beweglichen Herrenmenschen, der eine unsagbare Freude an den Qualen Luckys hat. Natürlich ist auch er streng choreographiert, aber im Gegensatz zu den beschwerlichen, kämpfenden Schritten von Wladimir und Estragon wippt er raubkatzengleich durch das Geschehen. Wobei „Geschehen“ nicht wörtlich genommen werden darf, denn in der Rasche-Inszenierung geschieht, zumindest an äußerer Handlung: nichts. Da ist das roboterhafte „Tanzen“ und „Denken“, das Pozzo von seinem Knecht fordert, schon fast ein vitales Erlebnis.
Alle Komik, alle Handlung, die bei aller Absurdität bei Beckett vorkommt und die auch eine Lesart als clowneske Groteske erlauben, ist in Bochum abhanden gekommen. Einzig der Schluss hat etwas Versöhnliches: Pozzo und Lucky, nach der Pause blind (Pozzo), stumm (Lucky) und unfähig, sich selbständig zu bewegen, können aus eigener Kraft die Bühne verlassen. Wladimir und Estragon halten sich weiter aufrecht durch die Aufgabe, auf Godot zu warten.
Erschöpfend überwältigend
Ulrich Rasche schafft seinen eigenen Theaterkosmos, detailliert choreographiert, an jeder Silbe des Textes arbeitend, Stimmung und Sinn werden unterstützt und hergestellt mit seinem Klang-Raum.
In Bochum trifft eine sehr intellektuelle und sezierende Regiearbeit auf hervorragende Darsteller, sodass ein Abend entsteht, der vom Publikum zwar einiges fordert, aber in sich sensationell stimmig ist. Wer bis zum Schluss der fast vier Stunden bleibt – nach der Pause blieben einige Sitze des nicht ganz ausverkauften Zuschauerraums leer – geht mit starken Bildern und unvergesslichen Eindrücken nach Hause. Ein Ereignis ist diese Inszenierung allemal.
Schauspielhaus Bochum, Königsallee 15, Bochum
Warten auf Godot, Samuel Beckett. Wladimir: Steven Scharf, Estragon: Guy Clemens, Pozzo: Dominik Dos-Reis, Lucky: Yannik Stöbener
Regie: Ulrich Rasche, Bühne: Ulrich Rasche, Franz Dittrich, Kostüm: Annika Lu, Licht: Sirko Lamprecht, Komposition, Musikalische Leitung: Andrea Belfi, Dramaturgie: Mehdi Moradpour, Musiker:innen: Andrea Belfi, Alfred Brooks, Hilary Jeffery, Špela Mastnak, Lorenzo Setti.
Das könnt ihr euch anschauen