Künstler Jochen Gerz im Interview zu „The Walk“

Jochen Gerz | Foto: Guido Meinecke
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Jeder große Text braucht einen starken Anfang. Der Künstler Jochen Gerz („2-3 Straßen“) hat ihn gefunden: „Ich hatte eine glückliche Kindheit. Darf man das sagen?“ So beginnt die 25 000 Wörter umfassende Erzählung, mit der er die Außenfenster des Duisburger Lehmbruck-Museums auf einer Länge von 100 Metern zu einem Buch macht. „The Walk. Keine Retrospektive“ heißt seine Installation – denn auf eine gewöhnliche Museumsausstellung hat er keine Lust. Im Interview mit Max Florian Kühlem erklärt er, warum.

Das Lehmbruck-Museum hat schon vor drei Jahren bei Ihnen angeklopft. Warum mussten Sie so lange überlegen?
Den Wunsch des Museums, eine Retrospektive zu machen, habe ich abgelehnt.Der Gedanke, zurückzublicken, kommt mir verdächtig vor. Zur gleichen Zeit habe ich an meiner Website gearbeitet, am Katalog meiner Arbeiten, an einer Art Resümee. Und dann gab es diesen Text von 1940, dem Jahr meiner Geburt, bis 2018. Darin beschreibe ich acht Jahrzehnte – von der Kindheit über die Nachkriegszeit, die 1960er-Jahre und so weiter. Es geht darum, was sich in der Gesellschaft und im persönlichen Leben und in der Arbeit getan hat.

Warum gehen Sie damit nichts ins Museum?
Ich habe seit über 20 Jahren keine reguläre Ausstellung mehr gemacht. Mein Raum bleibt der öffentliche Raum, ihm fühle ich mich verbunden. Die Kunst, die von beflissenen Betrachtern umgeben ist, ist keine gute Idee, das ist nicht demokratisch. Wir brauchen eine Gesellschaft, die sich selbst als Autor empfindet.

Die Außenfenster zu bespielen war dann der machbare Kompromiss?
Meine allererste Ausstellung hatte ich 1975 im Lehmbruck-Museum. Diese Scheiben haben mich immer fasziniert. Das Verrückte an dem Bau ist ja: In einer Zeit, wo alles in Trümmern lag, haben Leute die Courage gehabt, dieses offene Gebäude aus Glas zu bauen. Während wir heute mit unendlich viel mehr Privilegien ausgestattet nicht so gewagte Sachen machen. Für mich ist dieser Bau ein Nachkriegssymbol: Aus der Holocaust-Gesellschaft heraus entsteht so ein gläsernes, fragiles Ding.

Die Besucher erarbeiten sich den Text über einen drei Meter hohen Steg. Darauf stehen auch geflüchtete Menschen als Ansprechpartner bereit. Wie kam es dazu?
Ich bin mit 18 Jahren abgehauen, als ich in die Armee gemusst hätte und habe in vielen Ländern Europas gelebt. Ich bin nicht vertrieben worden. Heute spürt man das langsame Verebben von Fortschritt. Dabei kommt diese Gesellschaft aus dem Krieg und die Neuankömmlinge kommen auch aus dem Krieg. Ich möchte den Gedanke der Ähnlichkeit betonen. Was die Integration angeht: Man qualifiziert diese Leute immer gern, um zum Beispiel Hobeln zu lernen, für Beschäftigungen am unteren Rand. Aber ich habe zum Museum gesagt: Lasst sie doch an der geistigen Beschäftigung teilhaben!

The Walk – Keine Retrospektive Bis 26.5.2019, Lehmbruck-Museum, Duisburg

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