Von einem, der auszog, die Langeweile zu ergründen

Foto: Lukas Vering
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Langeweile kennt jeder. Kaum ein Studium, in dem man sich nicht mindestens in einer Pflichtveranstaltung zu Tode langweilt. Oder ganze Blöcke vollkritzelt. Aber was, wenn diese Gefühle uns nicht nur sprichwörtlich, sondern ganz akut schaden? Lukas Vering erinnert sich an ein verhängnisvolles Blockseminar* und fasst dazu aktuelle Forschungsergebnisse zum Phänomen Langeweile zusammen.

10:07 Uhr

Schon mehr als sechzig Minuten geschafft. Noch sieben elendig lange, dröge und hirnzersetzende Stunden bis das Blockseminar endlich vorbei ist. Thema: EDV-Kenntnisse für Kulturwissenschaftler. Oder anders ausgedrückt: Word von A wie „Andere Schriftgröße“ bis Z wie „Zeilenabstand verringern“. Dazu ein paar Ausflüge zu InDesign und Photoshop, die auch nur behandeln, was ich mir zum Setzen der Schülerzeitung vor Jahren selbst anlernen musste. Ergo: Langeweile macht sich breit. Sie setzt sich wie ein fetter Zwerg auf meine Schultern, der meinen Kopf immer wieder auf die Tastatur hämmern will. Bevor meine Stirn wirklich die Leertaste küsst, suche ich in fast schon panischer Verzweiflung nach Ablenkung. Gefunden wird sie letztlich in Stift und Papier. Ich beginne zu kritzeln. Zuerst ist die Rückseite der ausgedruckten Tagesordnung dran. Den Ablaufplan meines langsamen Abstiegs in den Wahnsinn brauche ich eh nicht mehr, ich werde mich durch den Rest des Tages einfach treiben lassen. Beziehungsweise: mich hindurchkritzeln. Ob das funktioniert?

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Jahre später soll ich diesen vollgemalten Zettel beim Aussortieren diverser verstaubter Kartons wiederfinden und mich fragen: Warum war dieses Blockseminar so schmerzlich? Zeit, eine Expertin zu fragen. Silke Ohlmeier vom Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Uni Köln forscht aktuell für ihre Promotion im Fach Soziologie zum Thema Langeweile. Ihre Beschreibung, was Langeweile eigentlich genau ist, trifft die Gefühle meines damaligen Selbst auf den Punkt: „Langeweile ist der unerfüllte Wunsch nach einer befriedigenden Tätigkeit. Das beinhaltet auch, dass wir uns in einer Situation gefangen fühlen und uns auf das, was wir tun müssen, nicht konzentrieren können oder wollen.“ Ohlmeier richtet sich hier, da es keine einheitliche Definition von Langeweile gibt, nach dem Psychologen John Eastwood. Sie erklärt weiter: „Langeweile ist per se ein negatives Gefühl. Haben wir gerade nichts oder nicht viel zu tun und genießen das, ist das keine Langeweile, sondern Entspannung, Meditation oder Muße. Wichtig ist also, Langeweile nicht mit Nichtstun oder Monotonie gleichzusetzen. Prinzipiell kann man sich in jeder erdenklichen Situation langweilen – oder auch nicht. Es ist also nicht wichtig, ob man etwas zu tun hat, sondern vielmehr, ob man das, was man tut als sinnvoll oder befriedigend erlebt.“ Die Abwesenheit von Sinn war es also, die mich quälte. Der Lernstoff, zu dem ich verdonnert wurde, weil die Prüfungsordnung meines Studienganges nun mal fest vorsah, dass jeder Studi unabhängig von seinem Wissensstand, den gleichen EDV-Kurs zu durchlaufen habe, schien mir frei von Nutzen.

12:34 Uhr

Während neben mir eine offensichtliche Technik-Legasthenikerin mit der Verblüffung einer Zeitreisenden aus dem 18. Jahrhundert die Freuden der Dokumentenformatierung erprobt, habe ich die geforderten Aufgaben in einer Minute durch. Meine Aufmerksamkeit gilt längst schon wieder dem Kritzeln. Inzwischen ist der Ablaufzettel von beiden Seiten minutiös und bis auf den letzten Zentimeter mit kleinen Zeichnungen versehen worden und sieht im richtigen Winkel betrachtet aus, wie der volltätowierte Rücken eines Bikergangbosses. Als nächstes ist die Rückseite des Collegeblocks dran. Auch die könnte doch Mitglied in der Bikergang werden. Ich nenne sie: „Doodle-Dogs from Hell“. Aber warum nur staunt die Word-Grundschülerin zu meiner Linken so dermaßen über die Wunder von Word, während ich langsam aber sicher die Kraft verliere, um die Zeit totzuschlagen?

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Silke Ohlmeier führt dazu ihre Definition von Langeweile weiter aus: „Es ist wichtig zu beachten, dass Langeweile keine Charakteristik einer Person oder Situation ist, sondern eine Beziehung zwischen Situationen und Personen – also immer eine Interpretation einer Situation.“ Soll also heißen: Nur weil ich persönlich ein Blockseminar unerträglich lahm finde, muss das nicht für jeden gelten. Wo der eine das Formatieren von Word-Dokumenten als unsäglich langweilig wahrnimmt, erlebt der nächste vielleicht einen Rausch der Begeisterung. Wer weiß, wäre der Lernstoff besagten EDV-Kurses für mich nicht völlig überholt gewesen, würde mein Collegeblock heute nicht auf dem Motorrad im Rudel der Doodle-Dogs die Straßen unsicher machen. Wie die Soziologin sagt: Es geht darum, wie ich die Situation wahrnehme und ob ich sie als sinnvoll erlebe. Kommt dann noch das Gefühl dazu, dass man in der Situation gefangen ist, beziehungsweise in sie hineingezwungen wurde – etwa von einer Studienordnung – wird die Langeweile schmerzhaft.

15:49 Uhr

Rück- und Vorderseite des Collegeblocks sind inzwischen zu Doodle-Schlachtfeldern mutiert. Die Motive werden düsterer. Meine Stimmung auch. Der Kurs beschäftigt sich inzwischen mit dem Zauberstab-Tool in Photoshop. Die Computer-Schleiche neben mir markiert wie eine wildgewordene Hexe Farbflächen und erforscht die Wunder der Bildbearbeitung, während sich auf meinem Bildschirm schon psychodelische Collagen in acht Ebenen übereinandertürmen. Inzwischen fühle ich mich fast schon verzweifelt, so langweilig ist mir. Die Ablenkungsstrategien greifen vielleicht für Minuten, aber der Frust darüber, wie ich hier meinen Tag verschwende, kehrt immer wieder zurück. Als würde ich den fetten Zwerg auf den Schultern von mir werfen, nur um kurz durchzuatmen, bevor er schon wieder aus den Schatten herbeigekrochen kommt und an meinem Körper emporklettert. Wie lange kann ich ihn noch davon abhalten, meinen Schädel auf die Tasten zu dreschen? Nur noch knapp eine Stunde. Und Morgen alles wieder von vorne. Und Sonntag. Während ich mein Gesicht in den Händen vergrabe, quält mich eine Frage: Was, wenn mein ganzes Studium so wäre – und nicht nur ein kleines Blockseminar?

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„Laut einer Studie aus Großbritannien langweilen sich 60 Prozent der Studierenden in über 50 Prozent ihrer Veranstaltungen“, weiß Silke Ohlmeier. Kein seltenes Phänomen also. Das hätte entweder mit einer Unterforderung zu tun, siehe EDV-Kurs, könne aber auch mit einer Überforderung zusammenhängen: „Etwa weil man den Inhalt einer Veranstaltung nicht versteht, sich nicht darauf konzentrieren kann und so den Anschluss verliert.“ Also quasi, wenn die Techniklegasthenikerin eine echte Technik-Analphabetin gewesen wäre und sich von vornherein ausgeklinkt hätte. So kann auch das ganze Studium als eine einzige Langeweile wahrgenommen werden: Wenn man einfach keinen Sinn in dem sieht, was man tut. Wenn man ein Studienfach nicht gewählt hat, weil man ein aufrichtiges Interesse daran hat und auch in keiner anderen Form Begeisterung dafür in sich wecken kann. „Schuld daran sind einerseits passive Lernsituationen wie Frontalunterricht, wenig Involvierung oder Auswendiglernen, sowie wenig Entscheidungsspielraum in der Seminar- oder Themenwahl,“ erläutert die Soziologin. „Andererseits stehen aber auch die Studenten selbst in der Schuld: Wer sich vorab nicht einarbeitet, etwa die notwendigen Texte liest, kann der Vorlesung verständlicherweise nur schwer folgen. Das ist die Eigenverantwortung der Studierenden.“ In diese fällt wohl auch die Wahl des richtigen Studienfaches, für das man wenigstens ein bisschen brennen kann. Unförderlich für ein interessantes und gesundes Studium sind nach dieser Logik dann Dinge wie Pflichtseminare oder die aktuell mal wieder in der (Hochschul-)Politik debattierte Anwesenheitspflicht, die Studenten in als langweilig wahrgenommene Situationen zwingen. Und diese Langeweile kann zu mehr als nur zu vollgekritzelten Collegeblockrückseiten führen.

08:28 Uhr

Tag zwei des Blockseminars steht kurz bevor. In den Reihen der Kommilitonen haben sich Mitstreiter gefunden, die ebenfalls hart an ihrer Schmerzgrenze vegetieren. Nach erfolgreichem Überleben von Tag eins rottete man sich zusammen und lästerte in bekannter Studi-Art über den Unsinn dieser Veranstaltung, den drögen Dozenten, die Sinnfreiheit der Inhalte und das man, wenn es den Kurs schon als Pflicht geben muss, diese wenigstens modernisieren könne. Und darüber, dass man zwei weitere Tage so auf keinen Fall ertragen könne. Drum wurden kleine Flachmänner mitgebracht. In höchst ungesunder, ja fast selbstzerstörerischer Manier wird Hochprozentiger in Pappkaffeebecher ausgeschenkt. Die ersten Schlücke brennen noch in der Kehle. In ein, zwei Stunden wird es geheime Trinkspiele über drei Tischreihen hinweg geben. Und ein wohliges Gefühl von Benommenheit, dass einen Tropfen Wärme in die kühle See der Langeweile wirft…

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Rückblickend fragt man sich: War das gesund? Kaum. Kann Langeweile uns wirklich so weit treiben? Silke Ohlmeier weiß: „Langeweile agiert in verschiedenen Dimensionen. Neben einem verlangsamtem Zeitempfinden oder dem Gefühl der Sinnlosigkeit, kann sie auch mit Müdigkeit, Lethargie, Gereiztheit und Unruhe einhergehen. Die Folgen können langfristig sehr schädlich sein: Langeweile korreliert mit Depressionen, Risiko- und Suchtverhalten oder Arbeitsunfällen. Zu diesen Zusammenhängen gibt es viele quantitative Studien.“ Nicht schwer vorstellbar, wie oft der Schnaps in die Pappbecher fließen würde, wenn jeder Studientag so aussehen würde, wie das ungeliebte Blockseminar. Silke Ohlmeier relativiert die Gefahr eines bis in die Krankheit treibenden Studiums aber: „Langeweile an der Uni führt meiner Meinung nach eher zum Schwänzen von Seminaren und im schlimmsten Fall schließlich zum Studienabbruch – dies ist ja eine Situation, der man besser entfliehen kann und die mehr Abwechslung bereithält.“ Im Kontrast dazu sieht sie, wie viele andere Forscher, Situationen am Arbeitsplatz. Hier gibt es Forschungen zu einem Phänomen namens Bore-Out, also quasi einer Artverwandten des Burn-Outs. Die Symptome sind ähnlich, Ohlmeier erklärt sie so: „Bore-Out bezieht sich in vielen Forschungen, die ich gesichtet habe, auf die Langeweile am Arbeitsplatz. Damit einhergeht ein Gefühl des Gefangenseins in einer Situation. Man ist also zeitlich oder inhaltlich von seiner Arbeit unterfordert, gleichzeitig will oder kann man diese aber nicht quittieren. Beispiel: Ein 50-jähriger Beamter langweilt sich am Schreibtisch. Er könnte kündigen, aber die Anreize zu bleiben sind groß, etwa der feste Vertrag, die Sicherheit, das Geld. Was folgt, sind gesundheitliche Reaktionen auf diese Stresssituation.“ Ein extremer Zustand, laut Ohlmeier, die Langeweile eher als Spektrum mit vielen Abstufungen sieht – wobei Bore-Out die wirklich massivste Form wäre.

16:01 Uhr

Tag zwei zieht sich. Die Flachmänner sind leer, der Schwips verflogen, zurück bleibt ein brummender Schädel. Die Sitznachbarin, immer noch begeistert von den Möglichkeiten der Wundermaschine Computer, hat mein Leid erkannt und mir ihre Collegeblockrückseite gespendet. Vielleicht will sie aber auch nur so coole Kritzeleien einer geplagten Künstlerseele zur Show tragen. Ich hätte ihr Geld dafür abnehmen sollen. Ich hätte ein Start-up gründen sollen: „Kritzelcool – der total fesche Block!“ Ich hätte… nach Hause gehen sollen. Um 16:04 Uhr ist der Entschluss gefasst: Tag drei wird geschwänzt. Aus Selbstschutz. Alkohol ist auch keine Lösung. Das schreibe ich der Techniklegasthenikerin zwischen die Skizzen verdorrter Bäume und weinender Dinosaurier.

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Für Soziologin Silke Ohlmeier ist das keine zwingend verwunderliche Reaktion. „Neuere Strömungen in der Langeweile-Forschung beschreiben die Langeweile als eine Art Selbstregulierungsmechanismus. Es ist zwar ein negatives Gefühl, aber wie Schmerz hat es einen Sinn: Das Unangenehme fordert uns auf, etwas zu ändern. Es gibt einen Anstoß, darüber nachzudenken, was falsch läuft und zu erkennen, dass was ich tue offensichtlich nicht im Einklang mit meinen Wünschen, Interessen und Fähigkeiten steht.“ Langeweile helfe uns also, auf unsere Emotionen zu hören und auf die Spur zu kommen, was uns eigentlich wirklich interessiert und was wir machen wollen. Auf die Lektionen der Langeweile, sollte man auch im Studium hören. „Wenn ich mich mal in einer Pflichtveranstaltung langweile, muss ich jetzt nicht sofort mein Leben umkrempeln, wenn ich aber 80 Prozent meines Studiums als langweilig empfinde, sollte ich anfangen, darüber nachzudenken, ob es für mich die richtige Wahl ist.“

Generell, so Ohlmeier, müssten wir viel mehr darauf hören, was die Langeweile uns sagen will. Ihre Existenz wird laut der Soziologin oft ignoriert oder sogar geleugnet. „Wenn ich mit Leuten über das Thema rede, höre ich oft Dinge wie: ‚Langeweile? Da musst du mich nicht fragen, das habe ich nicht! Wer hat denn heutzutage noch Langeweile?‘ Langeweile ist ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Wir versuchen ständig Leerstellen im Leben zu vermeiden – die Langeweile zu vermeiden heißt aber nicht, sie zu überwinden!“ Mit anderen Worten: Den Collegeblock vollkritzeln, bedeutet nicht, die Sinnlosigkeit der Situation aufzulösen. Man füllt die Leere nur mit etwas so gehaltlosem wie Zuckerwatte. Oder anders: „Ein Beispiel: Wenn ich jedes Mal, wenn ich eine Minute Langeweile habe, das Handy raushole, dann nimmt nicht die Langeweile ab, sondern die Langeweileschwelle sinkt – man ist immer schneller gelangweilt. Das ewige durch Facebook scrollen ist genauso eine Vermeidungsstrategie, wie wenn man auf der Arbeit zehnmal zur Toilette geht, noch eine raucht und mit den Kollegen quatscht.“ Auf die Langeweile zu hören und Tag drei eines sterbenslangweiligen Blockseminars zu canceln, ist hingegen die gesündere Alternative. Ohlmeier: „Wenn ich nicht den ganzen Schmerz der Langeweile spüre, dann bleibe ich eher in der Situation – und ändere nichts. Man muss Langeweile also auch annehmen können. Man muss der Versuchung widerstehen, sich die ganze Zeit abzulenken und die Leere mit Sinnlosem zu füllen, nur damit sie gefüllt ist. Dann kann aus Langeweile auch etwas Positives entstehen.“ Lukas Vering

*Die hier dargestellten Ereignisse entsprechen höchstens lose wahren Tatsachen und sind zu rhetorischen Zwecken teils stark fiktionalisiert.

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