Mit Mitte 30 hat Wolf Teichert eine Krise und sucht nach neuer Kreativät. Die findet der heterosexuelle Familienvater in der Travestie mit seiner Kunstfigur Sheila Wolf. 2024 ist er längst eine der bekanntesten Dragqueens des Landes und hat mit seinen Vaudeville- und Burlesque-Shows eine ganz eigene Nische geschaffen. Zum CSD in Köln kommt er mit dem Boylesque Drag Festival erstmalig nach NRW. Wir sprachen mit der spannenden Persönlichkeit über Diskriminierung und unnötiges Schubladendenken.
Sheila Wolf: „Frauendarstellung war früher einfach aus Jux und Dollerei da.“
Du machst seit 20 Jahren Travestie. Mittlerweile ist der Begriff Drag nahezu allen ein Begriff. Sind das Synonyme in deinen Augen?
Das Wort Travestie wurde damals ein wenig als verstaubt angesehen, sodass sich Leute weniger Shows angeguckt haben, die darauf ausgelegt waren. Erst mit dem Revival durch RuPaul und seine Show „RuPaul‘s Drag Race“, die einen wahnsinnigen Welterfolg gefeiert hat, schwappte der Trend auch hierüber. Eigentlich sind es aber Synonyme, ja. Es ist die gleiche Kunstform, nur dass mittlerweile locker 95 Prozent, die es versuchen, sich lieber Dragqueen nennen, weil es internationaler und moderner klingt. Eigentlich sind die meisten aber einfach Travestiekünstler.
Wie hat sich die Szene entwickelt, seitdem du das machst?
Ich nenne die Kunst auch gern Frauendarstellung. Frauendarstellung war früher einfach aus Jux und Dollerei da. Ein monetärer Wert wurde nicht verfolgt. Heute ist das anders. Durch die Fernsehformate probieren viele aus der Masse herauszustechen, entdeckt und berühmt zu werden. Allerdings sage ich dazu immer: „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“ Hab doch einfach erstmal Spaß. Geld kann man immer noch verdienen. Manche setzen sich eine Perücke auf, schauen ein paar YouTube-Tutorials und denken an Kohle. Mich fragen auch Leute, wenn ich solche Tutorials mache, ob ich mit den Videos gut verdiene. Für mich eine komische erste Frage, die ich auch nicht verstehe.
Was machst du mittlerweile anders als damals?
Auch ich habe das anfangs gemacht, um Spaß zu haben. Um mich auszuleben. Um meine, ich würde es fast schon Midlife-Crisis nennen, zu überwinden, die ich damals hatte. Durch die Geburt meiner Tochter und die Agentur, welche ich damals geführt habe, ging so viel Kreativität flöten. Dieses Ventil hat mir aber eben genau das zurückgegeben. Erst mit dem Gang auf die Bühne hat die Kunstform etwas Finanzielles bekommen. Irgendwann gab es kleine Gagen, später größere, dann gab es Fernsehformate, später größere. Aber die ersten fünf bis acht Jahre war es einfach nur Spaß.
Als Mann, der eine Ehefrau und eine Tochter hat, gehörst du zur absoluten Minderheit. Ist das immer noch ein Thema? Nervt dich das?
Es ist wirklich immer ein Thema, weil die Leute das einfach nicht begreifen können. Leute haben ein Schubladendenken, das in alle Richtungen funktioniert. Ich finde aber, dass Schubladen für Socken da sind und für nichts anderes. Viele sind so indoktriniert, dass sie genau diese Schubladen brauchen. Schwule Männer dürfen Frauenkleidung tragen, aber bei einem heterosexuellen Mann ist das sofort eine Perversion oder ein Fetisch. Mir wurde sogar schon Pädophilie vorgeworfen. Ich schüttele da aber nur den Kopf, weil ich mich frage, wo der Unterschied ist, ob ich oder ein schwuler Mann die Kleidung trägt.
Man wird wenn schwul geboren, aber durch Kleidung doch nicht schwul gemacht. Gerade bei einem heterosexuellen Publikum dauert es erst eine Zeit, bis man sie überzeugt. Wenn das aber einmal geklappt hat, sind sie an mir wirklich interessiert, reden viel mit mir, stellen Fragen und fühlen sich manchmal näher dran als bei einem schwulen Mann, weil sie denken, der würde sie anbaggern. Da gibt es dann eine Art Sicherheitsgefühl. „Der ist ja hetero, der ist verheiratet“ – ist für mich zwar ein Vorteil, aber eigentlich auch bekloppt. Als ob jeder homosexuelle Mann jeden anderen Mann anbaggert…
„Ich verstehe wirklich nicht, warum diese Gefahr überhaupt existiert.“
Wie ist das für dich, beruflich viel in der queeren Szene zu tun zu haben, privat aber nicht?
Doch, doch – das bekomme ich auch privat mit. Ich habe mich ganz bewusst dafür entschieden, das Risiko einzugehen und auch einen Teil der Häme, die queere Menschen abbekommen, genauso zu erleben. Diese Gefahr, die verbal wie handgreiflich passiert, sehen natürlich auch meine Frau, Tochter oder Mutter und sie sind dann manchmal verwundert, warum ich mich dem freiwillig ausliefere. Das tue ich aber, weil ich es wirklich nicht verstehe, warum diese Gefahr überhaupt existiert. Nur, weil jemand eine Person des gleichen Geschlechts liebt? Schwachsinnig. Schon am ersten Tag, als ich mit Perücke und Lippenstift rausgegangen bin, wurde ich angefeindet, allerdings aus der eigenen Community. Eine transsexuelle Person hat gesagt, ich würde nicht „den ganzen Weg“ gehen, weil ich ja nach dem Ablegen des Kostüms unter der Masse wieder abtauchen könnte, sie aber nicht. Das hat mich schon am ersten Tag zum Nachdenken gebracht, ob ich in der Szene überhaupt richtig bin. Allerdings schaffe ich mittlerweile seit 15 Jahren auf großen Bühnen queere Safespaces, und das mache ich einfach gerne.
Du kennst bestimmt das Modell, dass man oft von weiblicher und männlicher Energie spricht. Würdest du sagen, du hattest schon immer eine eher weibliche Energie?
Ach, das würde ich gar nicht sagen. Ich wurde erst vor Kurzem wieder gefragt, ob ich in der Beziehung mit meiner Frau die männliche oder weibliche Rolle spiele. Da habe ich mit dem Kopf geschüttelt. Jeder übernimmt einfach die Rolle, die zu ihm passt oder die man in dem Moment erfüllen möchte. Ich glaube, ich habe von beiden Energien genug, um sie auszuleben.
Findest du denn den Übergang zwischen der typisch heterosexuellen Cis-Mann-Community und der queeren fließend genug oder sollte sich noch was ändern?
Ich würde mich freuen, wenn die Leute, die so viele Vorurteile haben, den anderen einfach mal zuhören würden. Man muss ja nicht sofort für die Community aktiv etwas machen und deren Werte vertreten, aber man kann doch zumindest mal zuhören, um die ganze Aggression und Wut woanders loszuwerden. Drück doch einen Baum oder so, aber bitte schlage keine Menschen, die du nicht kennst! Auch in den sozialen Netzwerken werden so viele attackiert. Am Ende profitieren von dem ganzen Hate nur die Algorithmen. Tut mit eurer Energie einfach was Gutes. Ich konfrontiere diejenigen, die mich online angreifen, gerne genau damit. Ich habe gestern 500 Leute unterhalten und ihnen einen schönen Abend beschert – und ihr?
Ist Berlin da weiter vorne als andere Städte?
Nee, gar nicht unbedingt. Klar, oberflächlich betrachtet kann man hier schon seine Queerness ausleben und frei sein. Allerdings war ich bei meiner ersten Veranstaltung in Köln letztes Jahr so weggehauen. Alle waren von der ersten Sekunde an dabei. Ich bin zwar seit 20 Jahren beim Kölner CSD dabei, aber dass die Stadt auch bei solchen Events so ausrastet, fand ich wirklich sensationell. Das hat mich sehr beeindruckt. Somit ist Köln eigentlich gleichauf.
Sheila Wolf über TV-Auftritte und den Weg ins Showtheater
Du warst schon in mehreren TV-Formaten. An welche denkst du gerne zurück?
Gloria Viagra (Anm. d. Red.: 56-jähriges Urgestein der Berliner Drag-Szene) und ich haben vor über zehn Jahren zusammen „Frauentausch“ gedreht. Eigentlich reden wir da gar nicht mehr so oft drüber, weil wir damals noch so anders aussehen und vieles auch noch anders funktionierte. Allerdings ist die Show für mich ein im Kopf gebliebener Aschenputtel-Moment. Die Person, die wir damals aus Köln-Porz in unser Leben eingeführt hatten, dachte erst, wir führen sie vor und machen sie lächerlich – am Ende hat sie mir aber einen großen Strauß Blumen geschenkt und gesagt, es wäre die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Sie hat ganz neue Sachen kennengelernt und hat ihr Leben danach sogar verändert.
Auch „The Diva in Me“, was wir Anfang der Corona-Zeit für RTL+ gedreht haben, war ähnlich. Acht Frauen, die sich in den letzten Jahren irgendwie verloren haben, haben durch uns ein Make-Over erhalten, so zu einem neuen Selbstwertgefühl gefunden und ihr Potenzial wiederentdeckt. Großartig. Wir haben den Leuten zugehört, und genau das haben sie gemerkt. Erst dachten manche: „Oh Gott, die Transvestiten hier“, am Ende war es jedoch eine tolle Erfahrung, die sie sogar anderen gewünscht hätten. Schade, dass es keine zweite Staffel gab.
Deine eigenen Veranstaltungen auf Bühnen sind schon längst etabliert. Wie bist du im Showtheater gelandet?
Als ich angefangen habe, den Charakter Sheila Wolf zu entwickeln, war es einfach ein Dasein, eine Art Partyhopping. Doch schon bald war ich auf den ersten Burlesque-Abenden als Gast. Um mich herum gab es unzählige Drag-DJanes, warum sollte ich also die nächste werden? So habe ich mir eine andere Nische gesucht, selbst wenn Burlesque zunächst überhaupt nicht queer war.
Meine erste Berührung war mit The Teaserettes – fünf Burlesque-Tänzerinnen mit je einem eigenen Charakter. Auch internationale Performer kamen nach Berlin, zum Beispiel in den Admiralspalast. Alle Charaktere hatten immer einen Cabaret-Hintergrund. Die konnten singen, tanzen, eine richtig hohe Qualität. Das war nicht so wie der typische Underground. Das fand ich zwar auch immer sensationell, aber gerade diese aufwändigen Kostüme, der Glitzer, die Vielfalt, das Zirkusartige kombiniert mit etwas Frivolem hat mich richtig gekriegt. Eine der Teaserettes hat mich gefragt, ob ich nicht mal auf die Bühne möchte, da war ich anfangs aber total gegen. Mir hat sie dann aber einen Act geschrieben und mich so lange bequatscht, bis ich es gemacht habe, und wenn du einmal auf der Bühne bist, kommst du da so schnell nicht mehr herunter. (lacht)
Es gab mal eine heterosexuelle Rockabilly-Veranstaltung mit einem Burlesque-Contest, auf dem ich dann den zweiten Platz gemacht habe. Das hat mich so abgeholt, dass ich dachte: „Wenn die ganzen Heten einen singenden und tanzenden Transvestiten auf den zweiten Platz wählen, scheine ich etwas richtig zu machen!“ Ich hatte zu der Zeit zwölf eigene Burlesque-Acts, angestoßen durch eine Kollegin, die ich gern meine „Burlesque-Mutti“ nenne. Mittlerweile habe ich aber gemerkt, dass mir das Moderieren noch viel mehr Spaß macht. In London habe ich eine Show besucht, bei der ich gemerkt habe, dass ich Vielfalt brauche. Wenn ständig ähnlich ausschauende Frauen zu ähnlicher Musik tanzen, ist selbst mir das als Heteromann zu wenig. Also brauchte ich etwas eigenes. So habe ich in Berlin vor elf Jahren erst die Vaudeville-Show entwickelt, was auf Anhieb gut funktioniert hat, und dann peu à peu größere Anfragen bekommen wie das Wintergarten Varieté in Berlin.
Bei deiner nun auch in Köln stattfindenden Boylesque-Show gibt es aber nicht nur Männer in Drag, sondern auch in anderen Kostümen.
Genau. Das Festival ist an meine Vaudeville Variety angelehnt und hat einen großen queeren Anteil, aber noch vieles mehr. Jacques Patriaque hat das 2014 schon in Wien ausprobiert, ich bin damals mit Conchita Wurst kurz nach ihrem Sieg beim ESC dort aufgetreten. Der hat mit dem Konzept des Boylesque in Europa angefangen, adaptiert von einer Idee aus New York. Ich habe das dann 2019 für Berlin probiert und es hat hervorragend funktioniert. Durch Corona musste die Idee einige Zeit auf Eis gelegt werden, konnte aber ‘22 und ‘23 wieder super zurückgeholt werden.
Nun machen wir das Ganze erstmalig in Köln mit vielen internationalen Acts wie Dito Castro aus Spanien, Sylvester aus UK oder Santana Sexmachine aus Deutschland. Selbstverständlich stehen wir auch für Body Positivity, denn für mich zählt nur die Qualität und nicht, wer dahintersteht. Die Acts selbst bewerben sich teilweise zum wiederholten Male bei uns, einfach weil es so viel Spaß macht, obwohl für sie die Gage nicht so groß ist. Da geht es eben um Erfahrung. War bei mir damals in London, wo man gerade einmal 50 Pfund bekommt und nicht mal die Flugkosten mit abdecken kann, genau das Gleiche.
Burlesque: Männer ungleich Frauen!?
Machen Männer beim Burlesque etwas anders als Frauen?
Absolut. Besonders das Storytelling. Männer haben den „Nachteil“, dass sie besonders bei einem heteronormativen Publikum mehr machen müssen, um zu überzeugen. Es werden aufwändigere Kostüme und mehr Action erwartet. Frauen haben durch ihre Kurven oft den Vorteil, schneller zu überzeugen. Oft reicht es dem Publikum schon, wenn man strippt und ein bisschen mit einer Feder herumwirbelt – jetzt gar nicht abwertend gemeint, aber für mich reicht das zum guten Burlesque noch lange nicht. Besonders vor einem großen Publikum mit 500 Leuten musst du es hinkriegen, alle abzuholen. Bloßes Ausziehen wirkt da eher fantasielos.
Was ist organisatorisch stressig und was macht einfach nur Spaß?
In diesem Jahr macht wahnsinnig viel Spaß, dass ich bei den Bewerbungen, die ich ein halbes Jahr vorher auswerte, viel mehr Dragkings oder auch non-binäre Charaktere habe. Da bin ich super gespannt, was kommt und wie die es nun umsetzen. Ich mag das bunte Gesamtkonzept, was wir auf die Beine stellen.
Eine Hürde ist, Leute von etwas Neuem zu überzeugen. Gerade jetzt bei der Show in Köln hatte ich damit gerechnet, dass es schneller voller wird, aber es ist für viele eben noch unbekannt. Für mich hat das den Nachteil, dass ich ansonsten den Künstlern neben Geld immer viele Goodies bieten möchte, was ich jedoch nicht kann, wenn der Vorverkauf schleppend ist. Ich bin da aber guter Dinge, bis Mitte Juli ist noch etwas Zeit.
Deine Veranstaltung ist einen Tag vor dem großen CSD-Wochenende in Köln. Warum ist der CSD aus deiner Sicht immer noch wichtig und warum sollten auch Leute hin, die nicht zur Community gehören?
Es ist wieder von großer Relevanz, finde ich. Es gab eine Zeit, in der die CSDs sehr kommerzialisiert wurden, weil manche großen Brands auf den Zug aufgesprungen sind und gerne damit Pink Washing betrieben haben. Aktuell besinnt man sich wieder mehr auf den Kern und auf Aussagen, um bestimmte Leute zu erreichen. Diejenigen, die sagen, dass die Community doch genug Rechte hätte, sollte man für einen Tag mal mitnehmen, um ihnen zu zeigen, was einem als homosexuelles Pärchen, das Hand in Hand durch die Stadt geht, immer noch passiert. Selbst in Berlin kann man angemeckert werden, weil es manchen Menschen einfach nicht ins Weltbild passt. Ich finde das Multikulturelle hier wunderbar, aber auch mit einem anderen religiösen Background muss man hinnehmen, dass Queerness hier ok ist und zum Alltag gehört. Ich bin kein Politiker und weiß nicht, wie man das am besten hinbekommt. Ich finde nur, dass die Aufklärung mehr Energie braucht. Dass es auf dem CSD Securities für die Wagen gab, die sich selbst homophob äußern, darf einfach nicht passieren. Die Szene muss mehr an einem Strang ziehen und sich nicht gegenseitig im Kleinkrieg anfeinden, sondern eher den anderen helfen, zu verstehen.
Wenn nun jemand durch dich inspiriert wird und Drag ausprobieren möchte, wo und wie fängt man am besten an?
Geht einfach zu den Veranstaltungen. Schaut euch nicht 1000 Videos auf YouTube an, sondern knüpft Kontakte vor Ort. Ein Großteil der Künstler geht nach den Shows ins Publikum, sagt Hallo und geht mit den Leuten ins Gespräch. Mich interessiert auch einfach, wie die Zuschauer es fanden. Das ist genau die richtige Situation, um mal zu fragen. Viele geben da wirklich gern Auskunft. Sehen heißt lernen. Inspiration gibt es immer und überall. Überleg dir einen Act, bewirb dich und stoße deine Hörner ab.
Das Boylesque Drag Festival findet am 18.7. im Gloria in Köln statt.
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Pride-Season in Köln